Dokument1
Augen ein. »Ich möchte nur noch eines von dir wissen, Dennis. Was du mir erzählt hast - ist das wahr? Die reine Wahrheit?«
»Ja«, erwiderte ich, »es ist wahr. Und es kommt noch schlimmer. Aber möchtest du das wirklich noch hören?«
»Nein«, antwortete sie, »aber sag es mir trotzdem.«
»Wir können ja von etwas anderem reden«, sagte ich, ohne richtig daran zu glauben. Sie sah mich fest an. »Es ist vielleicht … besser… wenn wir das nicht tun«, sagte sie.
»Ein paar Wochen nach dem Tod ihrer Tochter beging seine Frau Selbstmord.«
»Der Wagen…«
»… war darin verwickelt.«
»Wie?«
»Leigh…«
»Wie?«
Also erzählte ich ihr nicht nur vom Tod des kleinen Mädchens und seiner Mutter, sondern auch von LeBay, wie sein Bruder George ihn mir geschildert hatte. Von LeBays unerschöpflichem Reservoir an Wut. Von den Kindern, die sich über seinen Bürstenhaarschnitt und seine Anzüge lustig gemacht hatten. Von seiner Flucht in die Armee, wo jeder den gleichen Haarschnitt und die gleichen Kleider trug. Von der Fahrbereitschaft. Von seiner ständigen Nörgelei über die Schei-
ßer, besonders über jene Scheißer, die ihm ihre teuren großen Privatschlitten brachten, damit er sie auf Kosten der Regierung reparieren sollte. Vom Zweiten Weltkrieg. Von seinem Bruder Drew, der in Frankreich fiel. Von dem alten Chevrolet. Dem alten Hudson Hörnet. Und von seiner Wut, die wie ein stetiger, nahezu unhörbarer Rhythmus erschien.
»Dieses Wort«, murmelte Leigh.
»Was für ein Wort?«
»Scheißer.« Sie mußte sich dazu zwingen, es auszusprechen, und dabei zog sie verschämt und mit einem unbewußten Ekel die Nase kraus. »Er benützt es oft. Arnie.«
»Ich weiß.«
Wir sahen uns an, und sie legte ihre Hände wieder in meine.
»Du frierst«, sagte ich. Und wieder eine gescheite Bemerkung von Dennis Guilder, diesem Ausbund an Weisheit.
Davon hatte ich noch mehr auf Lager.
»Ja. Ich habe ein Gefühl, als würde ich nie mehr richtig warm werden.«
Ich wollte sie umarmen und tat es nicht. Ich hatte Angst davor. Arnie steckte noch zu tief in allem drin. Das Entsetzlich-ste war - und das war wirklich entsetzlich - der sich immer mehr verdichtende Eindruck, daß er schon tot war - tot oder unter einem grausigen Bannfluch.
»Hat sein Bruder dir noch etwas erzählt?«
»Nichts, was ins Bild paßt«, erwiderte ich. Doch gleichzeitig stieg in mir eine Erinnerung auf wie eine Blase in einem stillen Wasser und zerplatzte: Er war besessen und jähzornig, aber er war kein Monster, hatte George LeBay mir erzählt. Zumindest…
glaube ich nicht, daß er das war. Es schien, als ob er - versunken in seine Erinnerungen - noch etwas hätte sagen wollen… doch dann wurde ihm bewußt, wo er war und daß er einen Fremden vor sich hatte. Was war es, das er loswerden wollte?
Plötzlich kam mir ein wahrhaft monströser Gedanke. Ich schob ihn von mir weg. Mit Erfolg… aber es war ein hartes Stück Arbeit, diesen Gedanken zu verdrängen. Als würde ich ein Klavier vor mir herschieben. Und die Umrisse konnte ich trotzdem noch erkennen.
Erst jetzt merkte ich, daß Leigh mich die ganze Zeit über gespannt beobachtet hatte, und ich fragte mich, wieviel von dem, was ich gedacht hatte, in meinem Gesicht zu lesen war.
»Hast du dir Mr. LeBays Adresse aufgeschrieben?« erkundigte sie sich.
»Nein.« Ich überlegte einen Moment und erinnerte mich an das Begräbnis, das einer unglaublich fernen Vergangenheit anzugehören schien. »Aber ich nehme an, daß der Veteranen-verein von Libertyville seine Adresse hat. Die haben ja LeBays Beerdigung veranlaßt und seinen Bruder benachrichtigt.
Warum fragst du?«
Leigh schüttelte nur den Kopf, ging ans Fenster und blickte hinaus in den blendend hellen Tag. Die schönsten Beine des Jahres, schoß es mir durch den Kopf.
Sie wandte sich um, und erneut war ich tief betroffen von ihrer Schönheit, gelassen und anspruchslos, abgesehen von diesen hohen, hochmütigen Wangenknochen - jener Art von Wangenknochen, die man bei einer Lady erwartet, der man ein Messer im Gürtel zutraut.
»Du sagtest vorhin, du wolltest mir etwas zeigen«, sagte sie.
»Was war das?«
Ich nickte. Es gab jetzt kein Halten mehr. Die Kettenreaktion hatte bereits eingesetzt. Sie ließ sich nicht mehr stoppen.
»Geh hinauf in den ersten Stock«, sagte ich. »Mein Zimmer ist die zweite Tür auf der linken Seite des Flurs. Öffne in meiner Wäschekommode die dritte Schublade von oben. Du mußt unter meiner Wäsche
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