Dokument1
in mir die niederschmetternde Gewißheit wuchs: Jimmy hatte seine Schlüssel verloren, und mein ganzer Plan war bereits gestorben, ehe die Sache richtig losgehen konnte.
Er kam in die Küche zurück und schüttelte betrübt den Kopf.
»Ich kann sie nicht finden«, sagte er. »Ich muß sie verloren haben. So ein Mist.«
Und Mrs. Sykes, fast drei Zentner schwer in Hausschuhen und einem verblichenen Hauskleid, die Haare mit pinkfarbenen Lockenwicklern gespickt, sagte mit einem gesegneten Sinn fürs Praktische: »Hast du in deinen Taschen nachgesehen, Jim?«
Ein erschrockener Ausdruck glitt über Jimmys Gesicht. Er stieß eine Hand in die Tasche seines grünen Drillich-Overalls, dann zog er mit einem verschämten Grinsen einen Schlüsselbund hervor, eines dieser neuartigen Dinger, wie man sie im Souvenirladen des Monroeville-Einkaufszentrums kaufen kann
- ein großes Gummispiegelei. Das Ei war schwarz vor Schmierfett.
»Da hab’ ich euch, ihr Satansbraten«, sagte er.
»Paß auf, was du sagst, junger Mann«, mahnte Mrs. Sykes.
»Zeig Dennis den richtigen Schlüssel für die Werkstattür und behalte deine Kraftausdrücke für dich.«
Jimmy überließ mir alle drei Sicherheitsschlüssel, weil sie nicht markiert waren und er nicht wußte, welcher Schlüssel zu welchem Schloß paßte. Mit einem konnte ich die vordere Werkstattür aufsperren, mit einem anderen die hintere Hallentür, und ein Schlüssel paßte zu Wills Bürotür.
»Vielen Dank«, sagte ich. »Ich geb’ sie dir so bald wie möglich wieder zurück, Jimmy.«
»Prima«, antwortete Jimmy. »Grüß Arnie von mir, wenn du ihn siehst.«
»Werde ich tun«, sagte ich.
»Möchtest du nicht doch ein paar Spiegeleier mit Speck haben, Dennis?« fragte Mrs. Sykes. »Es ist genug da.«
»Vielen Dank«, sagte ich, »aber ich hab’s eilig.« Es war inzwischen viertel nach acht; die Schule begann um neun.
Arnie rollte meistens um viertel vor neun auf den Schulparkplatz, hatte Leigh mir gesagt. Die Zeit reichte gerade. Ich klemmte mir die Krücken unter die Arme und stemmte mich hoch.
»Hilf ihm, Jim«, befahl Mrs. Sykes, »statt nur so dazu-stehen!«
Ich wollte protestieren, aber sie winkte ab. »Ich will nicht, daß du auf dem Weg zu deinem Wagen auf den Hintern fällst, Dennis. Wäre jammerschade um deine frisch verheilten Knochen.« Und sie lachte schallend über ihren Witz, und Jimmy, dieser Ausbund an Gehorsam, trug mich beinahe zu meinem Duster.
Der Himmel an diesem/Morgen zeigte ein dumpfes, schmutziges Grau, und im Radio prophezeite man für den späten Nachmittag weiterfe Schneefälle. Ich fuhr quer durch die Stadt, zur Libertyville High School, bog in die Zufahrt zum SchülerParkplatz ein und stellte meinen Wagen in die erste Reihe.
Auch ohne Leighs Hinweis wußte ich, daß Arnie in der letzten Reihe parkte. Ich mußte mit ihm sprechen, ihm den Köder direkt vor die Nase halten, aber ich wollte ihn so weit wie möglich von Christine weglocken. Mit zunehmender Entfernung von seinem Wagen schien LeBays Einfluß schwächer zu werden.
Ich blieb sitzen, den Zündschlüssel halb herumgedreht, damit das Radio lief, und blickte hinüber auf das Football-Feld.
Es erschien mir unvorstellbar, daß ich dort drüben auf den schneebedeckten Tribünen mit Arnie die Pausenbrote getauscht hatte. Unvorstellbar auch der Gedanke, daß ich dort drüben auf dem Feld selbst mit Kopfschutz, Knieschützern und wattierter Jacke dem Ball nachgejagt war, dämlich von meiner physischen Unverletzbarkeit überzeugt… vielleicht sogar von meiner eigenen Unsterblichkeit.
Dieses Gefühl hatte ich nicht mehr, falls ich es überhaupt je gehabt hatte.
Die Schüler trafen ein, stellten ihre Wagen ab, gingen auf das Schulgebäude zu, miteinander plaudernd, lachend und herum-albernd. Ich ließ mich tiefer in den Sitz sinken, da ich nicht erkannt werden wollte. Ein Bus hielt in der Hauptauffahrt und spuckte eine Menge Schüler aus. Eine kleine Gruppe fröstelnder Jungen und Mädchen versammelte sich draußen in der Raucherecke, wo Buddy und Arnie im Herbst ihren Zweikampf ausgetragen hatten. Auch dieser Tag schien mir jetzt in unvor-stellbare Ferne entrückt.
Mein Herz schlug heftig in meiner Brust, und ich fühlte mich elend und nervös. Die Memme in mir hoffte, daß Arnie heute gar nicht kam. Und dann sah ich die vertraute weiß-rote Form Christines die Zufahrt heraufkommen und in den Schülerparkplatz einbiegen. Der Wagen fuhr zügige zwanzig Meilen pro Stunde und zog eine
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