Dolch und Münze (02): Königsblut (German Edition)
Die Fähigkeit, Tränen verbergen zu können, war ein Geschenk. Aber nun begann ihr Gesicht von neuem zu leuchten. Clara schürzte die Lippen.
»Manchmal«, sagte Sabiha, »und das geschieht nicht oft, aber manchmal denke ich daran, wie die Welt sein könnte, wäre ich nicht Lord Skestinins Tochter.«
»Ach, aber das warst du doch immer«, sagte Clara, die versuchte, das Mädchen von dem Pfad abzubringen, auf dem sie wandelte. Aber sie ließ sich nicht abhalten.
»Ich weiß. Es gibt nur ein paar Freiheiten, die Frauen haben, wenn sie nicht das sind, was wir sind. Es gibt auch mehr Mühsal, das ist mir klar. Aber man kann das Leben immer irgendwie gestalten, und dann, vielleicht …«
»Nein«, erwiderte Clara.
Sabiha schossen Tränen in die Augen, aber sie weinte nicht. Noch nicht.
»Nein«, wiederholte Clara sanfter. »Du kannst nicht an dieses Kind denken. Du kannst es dir nicht einmal zurückwünschen. Es ist nicht gerecht, von jedem sonst zu erwarten, dass er es vergisst, und nur du darfst dich erinnern. So funktioniert das nicht.«
»Ich vermisse ihn aber«, flüsterte Sabiha. »Ich kann einfach nicht aufhören, ihn zu vermissen.«
»Du kannst aufhören, es zu zeigen. Jorey hat einiges aufs Spiel gesetzt, um dir ein anderes Leben zu ermöglichen. Einen Neubeginn. Wenn du ihn nicht gewollt hättest, hättest du ihn abweisen sollen. Ihn anzunehmen und sich an der Vergangenheit festzuklammern, ist nicht gerecht. Und es ist nicht klug.«
»Es tut mir leid«, sagte Sabiha mit belegter Stimme. »Er war mein Junge. Ich dachte, Ihr würdet das verstehen.«
»Ich verstehe es. Und deshalb sage ich das auch. Schau hoch. Schau mich an. Nein, an schauen. Schau mich an . Ja.«
Sabiha schluckte, und Clara spürte, wie sich langsam auch ihre Augen mit Tränen zu füllen begannen. Dort draußen gab es einen Jungen – ein Kind –, dessen Mutter ihn so sehr liebte, dass es ihr das Herz brach, und er würde es nie erfahren. Vielleicht war es gerecht dem Mädchen gegenüber. Sie hatte immerhin eine Entscheidung getroffen, auch wenn diese Strafe zu groß für das Vergehen zu sein schien. Aber dem Kind war nichts vorzuwerfen. Ihm war nichts vorzuwerfen, und er würde leiden, und Clara würde tun, was sie konnte, um dafür zu sorgen, dass die Entfremdung zwischen Mutter und Sohn von Dauer war und Sabihas alte Skandale alle in der Vergangenheit blieben, wo sie hingehörten. Eine Träne lief Sabihas Wange hinab, und Claras eigene passte dazu.
»Gut«, sagte Clara. »Und jetzt lächle.«
C ITHRIN
VOR IHR SCHLIEF DER letzte Drachenimperator. Jede seiner Jadeschuppen war so breit wie ihre geöffnete Hand. Die Augenlider waren zu einem Schlitz zusammengekniffen, so dass eine kleine Scheibe des bronzenen Auges sichtbar blieb. Die gefalteten Flügel waren so lang wie die Spieren eines Großschiffs. Länger noch. Cithrin versuchte sich vorzustellen, wie die Statue zum Leben erwachte. Sich bewegte. In den Sprachen sprach, aus denen die Welt geschaffen war.
Einerseits waren die Masse und Schönheit und die der Statue innewohnende körperliche Macht demütigend. Die Klauen hätten ein Gebäude niederreißen können. In das Maul hätte, wenn es sich geöffnet hätte, ein junger Ochse gepasst. Aber Größe allein machte sie nicht aus. Der Bildhauer hatte es auch geschafft, einen spürbaren Intellekt, Wut und Verzweiflung in die Form der Drachenaugen und die Haltung seiner Flanken zu legen. Morade, der wahnsinnige Imperator, gegen den seine Klauengefährten rebelliert hatten. Morade, dessen Tod die Befreiung aller Rassen der Menschheit bedeutet hatte.
Neben ihr kratzte sich Lauro Medean am Arm. »Sie sagen, dass die Drachen so lange schlafen konnten wie Stein, wenn sie es wollten«, erklärte er. »Es war Bestandteil ihres Krieges. Die Drachen gruben sich ein oder legten sich in tiefe Höhlen. Verborgen. Und dann, wenn die Armeen ihnen den Rücken oder die Flanke zuwandten, wurden sie plötzlich wieder lebendig. Kamen kochend heiß aus dem Boden hervor. Schlachteten alle ab.«
Komme Medeans Sohn war ein Jahr älter als sie, aber er benahm sich sehr viel jünger. Er hatte die braune Haut und das dunkle Haar seines Vaters, und wenn sie genau hinsah, konnte sie erkennen, wo das Gesicht des jungen Mannes breiter werden, wo seine Wangen herabsacken würden, bis er Komme noch ähnlicher sah. Sie fragte sich, wie alt ein Mensch sein musste, ehe ihn die Gicht traf.
Er lächelte sie an. »Willst du hineingehen?«
»Ich hätte eine ganz
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