Dolly - 04 - Dolly, die Klassensprecherin
beleidigt. Zum Glück löste der Wind das Problem: Er riß ihr das Blatt aus den Fingern und
wehte es über eine Hecke. Da war Clarissa sehr erleichtert. Das Picknick war nett und gemütlich. Alle setzten sich am Rande
einer grünen Wiese hin, auf der viele bunte Blumen standen. Zur
einen Seite wogten gelbe Kornfelder, zur anderen erhob sich der
baumbestandene Lange Berg, und über allem leuchtete ein strahlend
blauer Himmel. Die Mädchen ließen sich all die leckeren Dinge
schmecken, die sie aus ihren Proviantpäckchen holten: belegte Brote,
Delikateßgurken, Tomaten, Kuchen, Obst und Pappteller mit Salat. Nach dem Essen blieben alle einfach sitzen und faulenzten in der
Sonne. Inzwischen verging die Zeit wie im Nu. Nach einer Stunde
mahnte Dolly, daß sie aufbrechen müßten, wenn sie den
Nachmittagskaffee in dem kleinen Gasthaus oben auf dem Langen
Berg einnehmen und später noch baden wollten.
„Clarissa und ich haben von Fräulein Wagner die Erlaubnis, zu Frau
Lucius, Clarissas alter Kinderfrau, zu gehen und dort Kaffee zu
trinken“, sagte Evelyn so höflich zu Dolly, wie sie es immer tat, wenn
sie wußte, daß sie mit Widerspruch rechnen mußte. „Sie wohnt in
Dahrendorf. Das ist das Dörfchen, von dem man dort hinten den
Kirchturm sieht, direkt am Fuß des Berges.“
„Was? Davon höre ich ja zum erstenmal!“ rief Dolly. „Weshalb
konntest du mir das nicht eher sagen? Es ist doch wahr? Du sagst es
hoffentlich nicht, um dich vor dem Aufstieg zu drücken?“
„Natürlich nicht“, sagte Evelyn. „Frag doch Clarissa.“
Clarissa, die bei Dolly stets ein bißchen ängstlich war, holte die
Einladung von Frau Lucius hervor.
„Also gut“, sagte Dolly und gab den Brief zurück. „Es sieht dir
ähnlich, Evelyn, dich auf diese Weise vor dem Bergsteigen zu
drücken. Darin bist du immer sehr findig!“
Evelyn hielt es für unter ihrer Würde zu antworten.
Frau Lucius erwartete die beiden Mädchen schon. Sie kam
herausgelaufen, um Clarissa zu begrüßen, und streichelte sie wie ein
kleines Kind. Dann entdeckte sie Evelyn, schien aber sehr erstaunt,
daß weiter niemand mitgekommen war.
„Ich habe mich auf zwanzig eingerichtet!“ rief sie. „Ich dachte, eure ganze Klasse käme, Clarissa! Was machen wir nur? Könnt ihr sie
nicht herholen?“
„Geh du hinterher, Evelyn“, drängte Clarissa. „Ich wage nicht, den
Berg hinaufzulaufen. Sie sind jetzt sicher schon halb oben.“ „Nein, ja nicht, Clarissa“, sagte Frau Lucius. „Du darfst auf keinen
Fall den Berg hinaufrennen – du mit deinem Herzfehler! Ich meinte,
die andere sollte gehen.“
Evelyn zog ein langes Gesicht. „Natürlich werde ich gehen“, sagte
sie. „Aber mit meinem Herzen ist auch irgend etwas nicht in Ordnung.
Es flattert immer, wenn ich mich überanstrenge.“
„Genauso ging es mir immer!“ rief Clarissa voll Mitleid. „Ich hatte
ganz vergessen, daß du mir das gesagt hast, Evelyn. Nun, da ist nichts
zu machen. Wir können die andern nicht zurückholen.“
„Wie schade!“ sagte Frau Lucius und führte sie in ihr kleines Haus.
In der guten Stube war ein wunderschöner Kaffeetisch gedeckt – mit
Schokoladenkuchen und Plätzchen und einer riesengroßen Torte. „Oooh!“ staunten Clarissa und Evelyn. „Welche Pracht!“ „Ich hatte angenommen, die ganze Klasse käme“, sagte Frau
Lucius.
„Nein, ich hatte bloß geschrieben, daß die ganze Klasse einen
Ausflug macht und ob wir – damit meinte ich Evelyn und mich – wohl
zum Kaffee herkommen dürften“, erklärte Clarissa. „Ich konnte nicht
ahnen, daß Sie dieses ,wir’ auf die ganze Klasse beziehen würden. Es
tut mir sehr leid.“
„Nun setzt euch erst einmal und eßt“, sagte Frau Lucius. Aber so
verlockend alle Sachen waren, nach dem reichlichen Picknick konnten
die beiden nicht viel verzehren. Evelyn sah die leckeren Dinge richtig
verzweifelt an.
Da hatte Frau Lucius einen großartigen Einfall: „Gibt es in eurer
Schule nicht manchmal ein Mitternachtsfest oder so etwas Ähnliches,
das ein paar Schülerinnen heimlich veranstalten?“ fragte sie Clarissa.
„Deine Schwester erzählte davon, als sie im Internat war.“ „Eine Mitternachts-Party!“ rief Evelyn und dachte an die paar, die
sie in Möwenfels mitgemacht hatte. „Das ist eine herrliche Idee, Frau
Lucius. Dürfen wir wirklich dies alles dafür haben?“
„Natürlich! Dann kommt es wenigstens in alle hungrigen Münder,
für die es bestimmt war“, sagte die alte Frau und zwinkerte den beiden
Mädchen zu.
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