Dolly - 06 - Abschied von der Burg
werden. Kannst du packen und gleich mitkommen?“
Das war für Evelyn ein furchtbarer Schlag. Ihr Vater krank, ihre Mutter außer sich! Und sie mußte eilends von hier fort.
Arme Evelyn – nun hatte sie großen Kummer!
Dann kam ihr ein weiterer Gedanke, und sie stöhnte. Dies alles hieß: Keine Schule in der Schweiz! Im Nu stand ihr die ganze Zukunft vor Augen. Nicht weit und hell, sondern düster und voll Mühe mit einer hysterischen Mutter – und ohne den ruhigen, liebenswerten Vater.
Bei dem Gedanken an den Vater schlug Evelyn voller Scham die Hände vors Gesicht.
„Und ich habe ihm nicht einmal auf Wiedersehen gesagt! Nicht einmal auf Wiedersehen!“ schrie sie auf. „Und ich habe ihm nicht geschrieben, obwohl ich wußte, daß es ihm nicht gut geht. Oh, jetzt ist es zu spät!“
Zu spät! Was für erschütternde Worte! Zu spät zur Reue, zu spät, um es besser zu machen.
„Ich habe ihm gemeine Dinge gesagt, ich habe ihn verletzt – o Fräulein Winter, warum haben Sie mich nicht zurückgehalten?“ klagte Evelyn mit aschfahlem Gesicht.
„Evelyn, es tut mir sehr leid“, sagte Frau Greiling freundlich. „Du solltest jetzt packen, Fräulein Winter möchte den nächsten Zug nehmen. Deine Mutter braucht dich, und du mußt gehen. Evelyn, du warst nicht immer so, wie man sein sollte. Jetzt hast du eine Gelegenheit zu zeigen, daß doch mehr in dir steckt.“
Evelyn ging hinaus und Fräulein Winter folgte ihr, um ihr beim Packen zu helfen. Frau Greiling saß da und dachte nach. Die Strafe kam immer, früher oder später, zu allen, die sie verdienten. Wenn das jeder begreifen würde, dann gäbe es nicht so viel Unglück auf der Welt.
Dolly kam in den Schlafraum und sah die weinende Evelyn beim Packen. „Evelyn, was ist los?“ fragte sie.
„Ach, Dolly, mein Vater ist schrecklich krank, er muß sterben“, weinte Evelyn. „Ach, Dolly, bitte vergiß die schrecklichen Dinge, die ich neulich gesagt habe. Wenn er nur nicht sterben würde, dann könnte ich alles gutmachen! Ich würde alles für ihn tun, die schlechteste, schmutzigste Arbeit auf der Welt! Aber es ist zu spät.“
Dolly war zu erschrocken, um etwas zu sagen. Sie legte schweigend ihren Arm um Evelyn.
„Wir müssen unbedingt den nächsten Zug erreichen“, sagte Fräulein Winter. „Ist das alles, was du packen mußt, Evelyn?“
„Ich werde deine Sachen packen und nachschicken lassen“, sagte Dolly – froh, daß sie etwas tun konnte. „Nimm nur das mit, was du unbedingt brauchst.“
Sie begleitete Evelyn voller Mitleid bis zur Auffahrt. Wie schrecklich, so von Burg Möwenfels Abschied nehmen zu müssen. Arme Evelyn! Alle schönen Hoffnungen und Träume hatten sich in Rauch aufgelöst. Wieviel Reue mußte Evelyn verspüren, wenn sie an die schrecklichen Auseinandersetzungen mit ihrem Vater zurückdachte! Auch Frau Greiling sah dem traurigen Abschied zu und schloß dann leise die Tür.
„Mache dir keine traurigen Gedanken, Dolly“, sagte sie. „Das ist jetzt Evelyns Sache. Laß dir deine letzte Zeit hier nicht verderben, Kind!“
Unvermittelt umarmte Dolly die überraschte Frau Greiling – und erschrak sogleich über sich selbst. Dann überbrachte sie den anderen die Neuigkeit.
Aber bald ließen andere Ereignisse die Mädchen Evelyn und ihren schnellen Abschied vergessen. Dolly und Susanne gewannen das Doppel gegen die früheren Schülerinnen. Martina gewann alle Einzelspiele. Will hatte Geburtstag und bekam von zu Hause einen so riesigen Kuchen, daß die ganze Schule zu essen hatte. Er wurde in einem Lieferwagen gebracht, und zwei Männer mußten ihn hereintragen!
Von Evelyn kam schließlich Nachricht, und Dolly seufzte erleichtert auf: Evelyns Vater mußte nicht sterben. Sie hatte ihn besucht. Es war noch nicht zu spät gewesen. Er würde zwar nie wieder richtig gesund werden, und Evelyn mußte wirklich arbeiten, aber sie wollte ihr Bestes tun. Ihr früheres Benehmen tat ihr leid, und sie wollte versuchen, alles gutzumachen.
Und jetzt ging die Schulzeit wirklich zu Ende.
Ein großes Aufräumen begann. Der persönliche Besitz aus den Zimmern der sechsten Klasse wurde verpackt und nach Hause geschickt. Große Pakete wurden heruntergeschleppt. Wieder einmal begann der Wirrwarr der letzten Tage vor Ferienbeginn. Britta zeichnete ihre letzte Karikatur, und Irene summte ihre letzte Melodie. Die Möwenfelser Jahre waren fast vorbei.
„Letzter Tag, Dolly!“ sagte Susanne, als sie am allerletzten Morgen erwachten. „Ein Glück, daß es heiter und
Weitere Kostenlose Bücher