Domfeuer
er zugegen waren. Alles war voller Blut gewesen, und seine Mutter hätte ihn, wenn sie nicht zu schwach gewesen wäre, am liebsten geschlagen, weil er versuchte, einen Blick auf das Häufchen Fleisch zu werfen. Doch Matthias hatte die Totgeburt schnell eingewickelt und fortgebracht.
Wenn Paulus es recht bedachte, hatte seine Mutter gewiss auch Anstrengungen unternommen, ihn, Barthel und Matthias aus ihrem Leib zu treiben. Welchen Grund sollte sie auch gehabt haben, seine Brüder und ihn zu schonen? Kinder waren ihrem Geschäft nun mal nicht einträglich. Vermutlich waren die drei Apostel ähnlich stark gewesen wie der kleine Jax.
Ihr Verhalten war genau wie das des Hurenwirts gewesen: selbstsüchtig, boshaft und verachtenswert. Paulus fragte sich, warum er in all den Jahren nie ein derart hartes Urteil über seine Mutter gesprochen hatte. Nur weil er es von klein auf gewohnt war, erwünschte Fehlgeburten zu erleben? Weil er damit aufgewachsen war? Weil er es hinnahm, dass sie tötete, um selbst zu überleben?
Henners Härte hatte ihm die Augen geöffnet. Paulus sah seine Mutter in einem anderen Licht.
»Trotz allem bleibst du bei deinem Vater?«, fragte er Jenne.
Sie musterte ihn. »Ja. Er ist mein Vater.«
»Warum kümmert sich deine Mutter nicht um den Kleinen?«
Jennes Brust hob sich unter einem Seufzer. »Die Schläge und Gemeinheiten von Vater hat sie überlebt, Jax’ Geburt aber nicht. Sie hat viel zu viel Blut verloren. Das war im Herbst. Mutters Tod hat alles nur noch schlimmer gemacht. Vater fühlte sich bestätigt, dass der Junge nur Unglück über unser Haus bringen würde. Er wollte Jax nicht, und jetzt hatte er seinetwegen auch noch seine Frau verloren.«
»Die er selbst zuvor fast umgebracht hätte.«
Jenne zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls sollte Jax nun weg. Mutter war nicht mehr, und Vater wollte sich nicht kümmern. Den Kleinen als Findelkind vor irgendeine Kirchentür zu legen, war noch die mildeste Lösung, die er im Sinn gehabt hatte. Ich habe gebettelt, bis er mir zugestanden hat, dass ich mich um Jax kümmern darf. Im Gegenzug sollte ich im Hurenhaus arbeiten.«
»Wie nobel.«
»Ich kann mit der Regelung leben, denn sie bedeutet, gleichzeitig Jax und ausreichend Geld zu haben.«
»Nun ja, wenn du ehrlich bist, wirst du eingestehen müssen, dass du mit dieser Regelung eben nicht leben kannst, nicht wahr? Du hast die Abmachung in der vorigen Nacht gekündigt.«
Jenne sah ihn an, und Paulus las Besorgnis in ihrem Blick.
»Er wird ihm schon nichts antun«, sagte er, um sie zu beruhigen.
»Ich weiß. Solange Jax da ist, kann Vater damit rechnen, dass ich zurückkehre. Und mit mir das Geld, das ich gestohlen habe.«
Wieder trat eine Stille zwischen die beiden. Paulus versuchte schnell, sie zu beenden. »Und wieder sitzen wir in einem Waschzuber«, sagte er.
Jenne lächelte. »Und wieder hat er uns gerettet.«
»Und wieder war es dein Einfall. Jedenfalls finde ich diese Zuberrunde viel schöner.«
Das Bademädchen und ein junger Bader trugen ein Brett heran, das sich unter dem Gewicht von Schüsseln, Bechern und einem Krug bog. Als sie es auf die Wannenränder zwischen die Badenden legten, lief Jenne und Paulus das Wasser im Mund zusammen.
»Der heilige Cosmas schenke dem Bader ein langes Leben«, sagte Paulus mit großen Augen. »Das hat er sich verdient.«
Die sättigende Wirkung von Brot und Käse auf dem Heumarkt hatte nicht lange vorgehalten, und so aßen sie mit viel Genuss gebratene Blutwurst und gestampfte Äpfel und tranken dazu reichlich Wein. Allzu reichlich, wie Paulus fand, denn er fühlte sich nach einer Weile nicht mehr entspannt, sondern träge wie ein alter Wallach, der schon viel zu lange in einer Rossmühle seine Runden drehte.
Bereits schläfrig, sah er zu Jenne hinüber. Wie er sie so betrachtete, als sie ein Stück Blutwurst kaute und sich das Fett aus dem Mundwinkel wischte, verstand er sie mit einem Mal. Sie war nicht sprunghaft, undurchschaubar und widersprüchlich. Sie war schlicht jung verdorben worden und schon voller hässlicher Erfahrungen. Sie war ein Opfer Henners und ihrer Arbeit im Hurenhaus. Ein völlig falsches Bild hatte sie sich da von den Männern gemacht, nun ja, nicht völlig falsch, aber doch mit falschen, viel zu grellen Farben gemalt. Sie verwechselte ihn mit den Kerlen, die sie dort bediente, und behandelte ihn auch so. Paulus wurde nun einiges klar.
»Hallo, nicht einschlafen!« Jenne kletterte aus dem Zuber, griff nach einem
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