Don Juan de la Mancha
hieß er doch gleich? Pokorny –
Prohaska.
Prohaska. Hatte er ein Verhältnis mit –
Nein. Wie kommen Sie darauf?
Gut. Dann haken wir ihn ab, sagte Hannah und blickte zum Papierkorb. Sie haben gesagt, Sie sind beim Versuch, Ihre Reportage zu schreiben, zu einem Punkt gekommen, wo Sie nicht weiterkönnen. Also was ist der Punkt? Noch fünf Minuten, Nathan!
Erlösung. Ich habe offenbar die fixe Idee, sie zu suchen, zugleich nicht die geringste Ahnung, worin sie besteht. Zu diesem Punkt bin ich gekommen, und das ist offenbar die Frage.
Es ist erstaunlich, Nathan. Ich habe Sie etwas überschätzt. Als ich Ihnen die Aufgabe gegeben habe, eine Reportage über die Grenze zu schreiben, über Ihre Grenze, habe ich etwas ganz anderes von Ihnen erwartet.
Ich schwieg.
Ich habe erwartet, dass Sie logischerweise auf eine ganz andere Frage stoßen. Auf eine Frage, deren Beantwortung zwar nicht alles, aber doch schon einiges klärt. Und damit wäre dann ein Punkt erreicht, wo wir sagen könnten, wir sind einen Schritt weiter. Aber Sie haben offenbar doch nicht wirklich beherzigt, was Ihr Lehrer Ihnen beizubringen versucht hat.
Ich schwieg. Prohaska hatte mir gar nichts beizubringen versucht. Er war ein versoffenes altes Arschloch mit einer kaputten Leber. Seit damals verstehe ich diese Redewendung, jemandem sei eine Laus über die Leber gelaufen. So ist er gewesen: Prohaska hat auf der Leber mehr Läuse gehabt als ein Straßenköter im Fell. Er starb fünf Monate nach seiner Pensionierung, einer Frühpensionierung. Ich fühlte mich verpflichtet, zum Begräbnis zu gehen. Aber ich bekam nicht frei. Die Zeitung schickte einen Kranz. Ich bin geduldig mit gebeugtem Rücken vor Prohaska gestanden, bereit, mit der hohlen Hand die Asche aufzufangen, die von seiner Zigarre fällt. Und plötzlich stand ich selbst da mit einer Zigarre und sah mich auf die gebeugten Rücken Jüngerer blicken. Das war meine ganze Ausbildung, eine normale Karriere.
Das ist ein hübsches Bild: Geh nah dran und mache Schwenks!, sagte Hannah. Kluger Mann, dieser Prohaska. Trifft auch auf die therapeutische Arbeit zu.
Sie riss wieder ein Blatt von ihrem Block ab, zerknüllte es zu einer Papierkugel, zielte auf den Papierkorb und warf. Die Kugel fiel auf den Rand des Korbs, Hannah ballte die Faust, die Kugel prallte vom Korbrand weg und fiel auf den Boden.
Sie haben sich zu sicher gefühlt, Nathan. Sie dachten, Sie können das und Sie bezahlen mich nur dafür, damit ich den Druck mache, den Sie brauchen, damit Sie es wirklich tun. Aber wenn Sie ein Problem lösen wollen, dann dürfen Sie nicht routiniert dran herangehen, denn es ist ja Ihre Routine, der Sie das Problem verdanken.
Ich schwieg. Hannah sah auf die Uhr.
Kurz und gut, Nathan, wenn Sie Ihr Leben als Leben an einer Grenze beschreiben, dann ist doch die naheliegende, die zunächst wichtigste Frage: Auf welcher Seite der Grenze befinden Sie sich eigentlich? Ich habe zu Ihnen gesagt: Denken Sie an die Schengen-Grenze! Sind Sie auf der Seite, wo man Angst davor hat, was von drüben hereinkommen, eindringen will, was da dunkel an Energie, Gier, Gewalt droht, sind Sie also einer, der sich verschanzt, oder sind Sie auf der anderen Seite und wollen hinüber, wollen eindringen, weil Sie sich drüben das Licht, das Gelobte Land vorstellen, weshalb Sie sogar Ihr Leben riskieren würden, um rüberzukommen? Ist Ihr Problem also die Angst vor dem Anderen, oder die überspannte Erwartung an das Andere? Das war’s für heute, Nathan, ich erwarte Ihre nächsten Schwenks.
31.
Auf welcher Seite bin ich? Den Versuch, diese Frage zu beantworten, musste ich wegen der Ereignisse der nächsten Tage aufschieben. Vielleicht aber waren es just diese Ereignisse selbst, die mir eine Antwort gaben.
Als ich nach der Stunde bei Hannah in die Redaktion zurückkam, wurde ich von Franz mit einer Idee konfrontiert, die er ohne Rücksprache mit mir bereits von der Chefredaktion hatte absegnen lassen. Das war ungewöhnlich. Wieso rennt er zur Chefredaktion, und redet nicht mit mir? Die Idee war gut. Das hieß, sie war so blöd, dass sie perfekt in das neue Raster passte, das wir im »Leben« nun füllen sollten. Die Herausgeber hatten von unserem Ressort »einen jüngeren Auftritt« gefordert. Das hieß, neben einem Layout-Relaunch (mehr und größere Bilder), dass wir künftig unsere Themen strikt auf die Zielgruppe der Neunzehn- bis Neununddreißigjährigen ausrichten mussten, mit einem kleinen Spielraum in Hinblick auf die
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