Doppelspiel
Elektronik betraf, wie er immer tat. Er steckte das Handy wieder weg und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er hoffte, er hatte das Richtige getan.
In seinem Job war der Instinkt manchmal alles, was man hatte. Wenn man dann recht hatte, war alles in Ordnung. Irrte man sich jedoch … Nun, manchmal starben auch Unschuldige.
Kapitel vierzig
R eggies und Shaws Tour zur Goya-Ausstellung bestand aus einer Fahrt über kurvenreiche Bergstraßen, einschließlich einiger Haarnadelkurven, bei denen sich einem der Magen umdrehte. Als sie nach Südwesten abgebogen waren, hatte sich die Topografie dramatisch verändert. Nun dominierten Kalksteinbrüche das Landschaftsbild, und Shaw fühlte sich an die weißen Klippen von Dover erinnert.
»Das ist wirklich außergewöhnlich«, bemerkte Reggie, nachdem sie an der Ausstellung angekommen waren. Sie befanden sich in den Außenbezirken von Les Baux-de-Provence auf den Gipfeln der Alpillen, in einem Steinbruch, von wo aus sie einen perfekten Blick über das Val d’Enfer hatten, das Höllental. Ein wahrlich ungewöhnlicher Ort für eine Kunstausstellung.
Jede Wand, die Reggie und Shaw sahen, war hell erleuchtet und zeigte das pixelige Bild eines der Meisterwerke des großen Spaniers Francisco José de Goya y Lucientes. Da waren die typischen Porträts von Mitgliedern des spanischen Königshauses, aber auch die nackte und die bekleidete Maja , die bei ihrer Enthüllung einst für großen Aufruhr gesorgt hatten und in der Folge von der spanischen Inquisition als obszön beschlagnahmt worden waren.
Und die Arbeiten des Spaniers waren auch auf den Boden projiziert. Es war ein wenig unangenehm, über solche anerkannten Meisterwerke zu gehen, doch nach ein paar Minuten war man von dem Spektakel schlicht wie hypnotisiert. Zum Thema passende Musik erfüllte die abgedunkelten Räume; ein gesprochener Begleittext fehlte jedoch. Texte an den Wänden informierten die Besucher über Goyas Karriere. Die Bilder änderten sich ständig, während Shaw und Reggie an ihnen vorbeigingen. In einem Moment waren sie in die buntesten Farben getaucht; dann wieder verdüsterte sich alles, und Schatten fielen über sie. Es gab auch ein paar uniformierte Wärter, die den Besuchern jedoch nicht helfen, sondern darauf achten sollten, dass niemand die Wände berührte.
Als Reggie und Shaw jenen Teil der Höhlen erreichten, wo Goyas düsteres Spätwerk ausgestellt wurde, verstummten sie. Shaw überflog die Broschüre, die man ihnen am Eingang gegeben hatte; doch darin stand so gut wie nichts.
»Ziemlich finster«, bemerkte er, als eine traurige Melodie den Raum erfüllte.
»Das ist Der 3. Mai 1808 «, sagte Reggie und deutete auf ein Gemälde, wo Franzosen auf unbewaffnete Spanier schossen. »Es soll an den spanischen Widerstand gegen Napoleon erinnern.«
»Hattest du Kunstgeschichte im Hauptfach?«
Reggie schüttelte den Kopf. »Nein. Das hat mich nur interessiert.«
Reggie starrte den Mann in dem weißen Hemd an, der den Mittelpunkt des Bildes bildete. Er hatte die Arme erhoben, entweder als Zeichen der Kapitulation oder – was wahrscheinlicher war – als Symbol des Trotzes. Seine Augen waren voller Entsetzen ob der Situation. Er und alle anderen um ihn herum sahen dem Tod ins Auge. »Als ich Waller gegenüber erwähnt habe, dass Goya nicht gerade ein fröhlicher Künstler sei, hat er etwas Seltsames gesagt.«
»Und was?«
»Er hat mir zwar zugestimmt, dass die Bilder düster seien, aber sie böten einem auch einen eindrucksvollen Einblick in die menschliche Seele. Und dann hat er noch etwas gesagt, was mich hat schaudern lassen.« Reggie zögerte, als wolle sie das Thema lieber nicht vertiefen.
»Was hat er gesagt, Janie?«, hakte Shaw nach.
»Er hat gesagt, jeder Mensch habe das Potenzial, Böses zu tun.« Sie drehte sich zu Shaw um. »Ich habe ihm erwidert, das glaube ich nicht. Wie denkst du darüber?«
Als Shaw nicht sofort darauf antwortete, sagte sie: »Vergiss es. Es ist ja auch egal.« Sie schaute wieder zu dem Bild. »Dieses Bild hat Manet und Picasso später inspiriert. Menschen, die andere Menschen abschlachten. Was für eine Inspiration.« Reggie schlang die Arme um die Brust und zitterte. Die Temperatur war um dreißig Grad gefallen, kaum dass sie die Cathédrale d’Images betreten hatten, wie man diese Höhlen nannte.
Im nächsten Raum wurden die Bilder eines gealterten Goya ausgestellt, als er unter einer Krankheit gelitten hatte, von der es hieß, sie habe seinen Geist
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