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Dornenkuss

Dornenkuss

Titel: Dornenkuss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bettina Belitz
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eigenes Reich, ausgegrenzt von den anderen, wo ich frierend auf den Skorpion wartete und erst einschlafen konnte, als er im Morgengrauen neben mich gekrochen war und gelblich-giftig im Licht des untergehenden Mondes zu schillern begann.
    Es kam mir vor, als sei er das einzige Wesen auf diesem Planeten, das mich noch verstand.
    Er würde mich nur stechen, wenn ich es wollte.

ENGELSZUNGEN
    Ich lebe, war mein erster Gedanke, als ich am nächsten Morgen zu mir kam. Gott sei Dank, ich lebe. Und ich werde weiterleben.
    Ich öffnete die Augen. An der schrägen Position, in der die Sonne durch die Ritzen der Fensterläden schien, erkannte ich, dass es schon spät am Vormittag sein musste, doch die anderen schienen noch zu schlafen. Es waren keine menschlichen Geräusche zu hören, nur das gedämpfte Rauschen des Meeres, das Flüstern der Silberpappeln und, wie immer, das Lied der Zikaden.
    Ich selbst blieb still. Mein Atem floss lautlos und sanft durch meine geblähten Lungen, mein Herz schlug in ruhiger Regelmäßigkeit, um das zu bewahren, für das ich mich innerlich noch immer wie im Gebet bedankte: mein Leben. Ohne zu fühlen, wusste ich, dass meine Lymphknoten endgültig ihre normale, gesunde Größe zurückerlangt hatten. Nicht nur das: Meine Muskeln waren arbeitsbereit, aber entspannt, mein Geist klar, meine Organe befanden sich alle am richtigen Platz und verrichteten ohne großes Aufheben ihr Werk; ein perfektes Zusammenspiel, dessen Winkelzüge ich nur dann spüren würde, wenn es gestört wurde. Ich hatte ein wenig Hunger, was ich morgens aber durchaus mochte, denn dann gab es einen guten Grund, aufzustehen und den Tag zu beginnen.
    Ich erinnerte mich daran, was in der Nacht geschehen war, und ich erinnerte mich auch an meine quälende Einsamkeit. Doch dann war ich eingeschlafen, weinend und mein Kissen im Arm, um mir wenigstens einzubilden, jemand hielte mich, und noch bevor ich vollkommen weg gewesen war, tauchte Grischa vor meinen Augen auf und dieses Mal war es anders gewesen. Schon die letzten Träume von ihm hatten nicht so sehr geschmerzt wie früher, als wäre mein Unterbewusstsein nachsichtiger geworden. Dieser Traum hatte mich sogar glücklich gemacht, denn ich hatte die beruhigende Gewissheit gespürt, dass jemand bei mir war, der mich kannte, stets mit einem Lächeln über mich wachte, beinahe wie ein Schutzengel. Ein Wächter über meine Seele, der darauf achtete, dass mich niemand zu sehr verletzte. Ich hatte mich diesem Gefühl hingegeben, bis meine Tränen langsam versiegten, und war mit einem süßen, erholsamen Schlummer belohnt worden. Ich machte mir nichts vor: Hier war niemand gewesen. Denn wer hätte das sein sollen? Colin schied aus, er hätte sich so schnell nicht satt essen können, um noch während der Nacht zurückzukehren. Die anderen schieden ebenfalls aus. Wahrscheinlich war es nur einer der geheimnisvollen Zauber gewesen, die der Schlaf für uns bereithielt; ich hatte dieses Phänomen nicht zum ersten Mal erlebt. So heilsam war es allerdings noch nie gewesen.
    Ich löste meine Aufmerksamkeit von meinem Bauch und meinen Gliedmaßen und widmete mich meinem Gesicht. Kein Spannungsgefühl zwischen und über den Augen. Es lag glatt wie ein See, meine Lippen gelöst, meine Haut weich. Nicht trotz, sondern wegen der Tränen, die ich heute Nacht vergossen hatte. Ich kannte das aus früheren Zeiten. Manchmal fühlte ich mich wie neugeboren, nachdem ich mich in den Schlaf geweint hatte, als würde das Weinen alten, trüben Ballast aussortieren und Platz schaffen für Neues, das genau jetzt beginnen und mich zu einem anderen, besseren und gelasseneren Menschen machen könnte.
    Ja, das hier wäre ein Moment für den grünen Knopf, dachte ich lächelnd. Ich hatte mir früher, als die Schule für mich noch eine Qual gewesen und ich schon mit Übelkeit und innerem Frieren erwacht war, oft vorgestellt, ich würde einen kleinen schwarzen Apparat mit einem einzigen grünen Knopf in meiner Tasche tragen, der in direkter Verbindung zu meinem Organismus stand. Und sollte der Augenblick kommen, in dem ich mich vollkommen wohl in mir selbst fühlte – manchmal, selten, geschah es und meistens unverhofft –, dann konnte ich den grünen Knopf drücken und der Apparat würde diesen Zustand für immer konservieren.
    Denn wenn ich mich weiterhin so fühlen könnte, dauerhaft, würde alles leichter von der Hand gehen und ich könnte jedes Hindernis spielerisch bewältigen, ohne mir selbst im Weg zu stehen,

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