Dornenkuss
weil ich ständig auf mich und meine Regungen lauschte. Jetzt war einer dieser Augenblicke. Sogar meine aufgewühlte Seele hatte sich der Magie meines Körpers ergeben und vertraute darauf, dass er alles richten würde. So mussten sich andere Menschen fühlen, dachte ich neiderfüllt. Wenn man sich so fühlte, kam man gar nicht erst in Versuchung, sich zu viele Gedanken zu machen.
Bei mir würde dieser Zustand in wenigen Stunden verflogen sein. Ich konnte ihn nicht halten. Den Apparat mit dem grünen Knopf gab es nicht und ich wusste, dass sich bald die Spuren der vergangenen Tage zeigen mussten und mich wieder das Bedürfnis einholen würde, mich zu erholen. Mit einem Seufzen zwischen Wohlgefühl und Resignation schwang ich meine Füße auf den Boden und erhob mich, um die Läden zu öffnen und den Tag zu begrüßen, denn ich hatte Schritte und leises Geschirrklappern gehört. Wahrscheinlich war Gianna ebenfalls wach geworden.
Frische Klamotten hatte ich kaum mehr übrig; die meisten mussten dringend gewaschen werden und die anderen waren verbrannt worden. Doch in meinem Schrank fand ich noch einen schwarzen, knappen Bikini, eine abgeschnittene Jeans und ein leicht durchsichtiges Top. Flink schlüpfte ich in die Bikiniteile und zog den Rest darüber. Ich konnte es kaum erwarten, schwimmen zu gehen. Ich hätte auch nackt gebadet, doch blanke Busen und Hinterteile waren in Süditalien verpönt. FKK gab es hier nicht und wir wollten die anderen Menschen am Strand – so wenig es auch waren – nicht vor den Kopf stoßen, indem wir ihre ungeschriebenen Regeln ohne Rücksicht brachen.
Durch meine Terrassentüren trat ich barfuß ins Freie, atmete tief ein und setzte mich genau auf jene Stufe, wo Tillmann, Colin und ich in unserem Rausch auf Tessa gewartet hatten. Schon nach wenigen Sekunden zogen die Kinder vom Ende der Straße auf ihren Fahrrädern vorbei. Sie winkten und ich winkte zurück. Irgendwo ertönte aufgeregtes, aber fröhliches italienisches Geschnatter, dann fuhr ein Zug vorüber und vom Strand hörte ich das Geräusch des Volleyballes, der auf nackte Unterarme traf. Noch war ich stille Zuschauerin, aber zum ersten Mal mit all meinen Sinnen bereit, mich mitreißen zu lassen.
Nach ein paar Minuten kam Gianna zu mir und setzte sich neben mich – immer noch in gebührendem Abstand und so weit weg, wie die Breite der Treppe es zuließ.
»Und, bist du jetzt glücklich?«, fragte sie behutsam und trotz ihrer Zurückhaltung klang ihre Frage unliebsam vieldeutig. Mein innerer Frieden erhielt einen Dämpfer.
»Was soll denn das heißen?«
»Nichts Schlimmes, Ellie, ehrlich!« Gianna hob die Hände, um mich zu besänftigen. »Aber wir haben es geschafft und euch steht der Weg frei und … ja, dann brauchen wir eigentlich nur noch nach deinem Vater zu suchen und können nach Hause fahren.«
»Nach Hause fahren?« Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. »Du willst jetzt nach Hause?«
»Ich sagte, wir suchen nach deinem Vater und fahren dann heim.« Wie Gianna das sagte, klang es, als würden wir husch, husch Ostereier suchen, sie in der nächsten Ecke finden und ins Körbchen packen. Es klang nicht einmal, als meine sie das ernst. Viel mehr Gewichtung lag auf dem Nach-Hause-Fahren. Ich fühlte mich weder zum einen noch zum anderen in der Lage. Zweifelnd schaute ich sie an, doch sie mied meinen direkten Blick.
»Ja, Ellie, ich würde gerne nach Hause.«
»Du hast deine Wohnung gekündigt«, erinnerte ich sie. »Hast keinen Job mehr …«
»Na und? Dann suche ich mir eine neue Bleibe und einen neuen Job. Das ist doch kein Problem. Also, wir sollten uns so rasch wie möglich überlegen, wo dein Vater stecken könnte, und dann … ja, wie gesagt. Nach Hause.«
Nach Hause – wie sollte das aussehen? Indem Paul und Gianna zurück nach Hamburg gingen, wo Gianna arbeiten und Paul studieren würde? Und Tillmann? Was sollte der machen? Sich wieder vor mir vergraben, bis er sich in der Lage fühlte, mir seine Gedanken mitzuteilen? Ganz zu schweigen von Colin, der ausdrücklich gesagt hatte, dass er in sein Haus im Wald nicht zurückkehren könne. Es gab kein Zuhause mehr, nicht für mich. Aber genauso wenig fühlte ich mich gestärkt und kräftig genug, schnell mal eben nach meinem Vater zu forschen. Ich hatte nach wie vor nicht die winzigste Spur. Ich musste mich erst ausruhen, wenigstens ein paar Tage lang.
»Versteh doch, Ellie, ich sehne mich nach meiner vertrauten Umgebung nach all dem Horror.« Gianna
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