Dornenliebe
nachzulassen, seine Augen fixieren abwechselnd Luna und das Ufer, seine Lippen sind zusammengepresst und auf der Stirn meint Luna kleine
Schweißperlen zu entdecken, er hätte das nicht tun müssen, denkt sie, so eine romantische Bootsfahrt hätten sie besser im nächsten Frühjahr unternommen. Luna fröstelt, die letzten Meter, bis sie wieder anlegen können, erscheinen ihr endlos, Falk redet nicht mehr, und an dem Ufer, das sie jetzt ansteuern, entdeckt sie nirgends ein Licht, keinen Hinweis darauf, dass vielleicht noch ein Ausflugslokal geöffnet sein könnte. Gegen einen Glühwein oder eine heiße Schokolade hätte sie jetzt nichts, aber an einem feuchten Oktoberabend rechnet kein Gastwirt mit Besuchern, die so spät noch einkehren.
Inzwischen haben sie das Ufer fast erreicht. Falk rudert nun langsamer, ab und zu streift das Boot am Schilf entlang, Luna denkt daran, dass sie als Kind immer gern die Hand ins Wasser gehalten hat, um zu testen, wie kalt es ist; hier traut sie sich nicht. Sie fürchtet, sich die Finger am Schilf aufzuschneiden oder von einem Fisch gebissen zu werden, sie weiß, dass das unwahrscheinlich ist, doch sie kann sich nicht dagegen wehren. Sie sitzt ganz starr, zum Frieren kommt jetzt die Müdigkeit hinzu, sehnsüchtig denkt sie an, ihr Bett zu Hause, an ihre dicke Daunendecke, eigentlich wollte sie nicht so spät schlafen gehen, bald fängt die Uni an und sie wollte schon vor dem ersten Tag zu einem normalen Tages- und Nachtrhythmus finden, um nicht schon ausgelaugt zu den ersten Vorlesungen zu gehen. Sie spürt, dass ihre Blase drückt.
Endlich hat Falk eine Stelle gefunden, wo er das Boot festmachen kann, einen Ast, der liegend ins Wasser ragt. Falk beherrscht den richtigen Knoten auch in der Finsternis, springt aus dem Boot und reicht Luna die Hand, damit auch sie an Land gehen kann. Hier ist es nicht mehr so unheimlich, im Sommer ist dies sicher eine verschwiegene kleine Badestelle, Lunas Füße stehen auf hellem nassem Sandboden, nachdem auch sie gesprungen und in
Falks Armen gelandet ist. Er scheint sich auszukennen. Sie schmiegt sich dicht an seinen Körper.
»Du zitterst«, stellt er fest und drückt einen Kuss auf ihr Haar. »Wir bleiben nicht lange. Aber diese Insel ist mein Lieblingsplatz, Luna. Ich wollte sie dir unbedingt zeigen.« Er nimmt ihre Hand und setzt sich in Bewegung, geht mit ihr ein Stück weiter nach innen, hier ist es noch dunkler. »Die Insel ist unbewohnt«, erklärt er. »Es gibt ein paar davon in Berlin, diese ist eine der größten, während die meisten anderen nur kleine Flecken sind und nicht einmal einen Namen haben. Anlegen und Betreten ist überall verboten, die kleinen Eilande stehen unter Naturschutz.«
»Du traust dich was«, stößt Luna hervor. »Im Sommer ist es hier sicher wunderschön.«
»Jetzt ist es noch schöner«, meint Falk und will sie weiterziehen, doch Lunas Füße gehorchen ihr nicht mehr, ihre Schritte werden immer kleiner, bis sie am Boden zu kleben meint. Ihre Blase drückt jetzt heftig, unmöglich kann sie warten, bis sie wieder in ihrer Wohnung ist. Als am Ufer ein Schwan mit seinen mächtigen Flügeln schlägt, schreit sie leise auf.
»Hast du Angst?«, erkundigt sich Falk, und selbst in der Dunkelheit erkennt sie das amüsierte Kräuseln seiner Mundwinkel.
»Es ist unheimlich«, gibt sie zu. »Bring mich nach Hause, Falk. Bitte.«
»Noch nicht«, erwidert er und zieht sie weiter. »Jetzt noch nicht, Luna.«
»Doch. Bitte, Falk.« Sie wimmert jetzt beinahe, dann hält sie es nicht mehr aus, gesteht ihm flüsternd ihr dringendes Bedürfnis, schämt sich, Falk ist schließlich nicht ihre Mutter, die früher immer in sicherer Entfernung dafür gesorgt hat, dass Luna beim Pinkeln im Wald nicht
beobachtet wurde. Aber Falk nickt verständnisvoll und verspricht ihr ebenfalls, in der Nähe aufzupassen. Seine Schritte entfernen sich, bald ist er auch aus ihrem Gesichtsfeld verschwunden, Luna beeilt sich, es erscheint ihr endlos, bis sie ihm endlich folgen kann. Falk sitzt schon im Boot und hat die Ruder aufgenommen. Ein Schrecken durchfährt Luna, als sie bemerkt, dass er sich bereits vom Ufer entfernt, das Tau hat er säuberlich aufgewickelt, mit wenigen Zügen vergrößert er den Abstand zu ihr. Trotz ihres Entsetzens versucht sie zu lachen.
»Komm zurück!«, ruft sie und achtet darauf, dass sich ihre Stimme nicht überschlägt. Natürlich ist es nur ein Spaß, natürlich will er sie nur ein wenig necken. Trotzdem ruft sie
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