Dornenliebe
Luna«, sagt Jaron. »Warte hier.« Ganz kurz umarmt er sie, Luna spürt die weiche Haut seines Ohrläppchens an ihrer Wange, nur den Hauch einer Sekunde lang, warum tut er das, fragt sie sich, er soll das nicht machen, doch schon versucht er, sich einen Weg durch die Menge in Richtung Theke zu bahnen. Luna bleibt stehen und denkt, dass sie dies alles nicht will, nicht hier stehen, nicht warten und keinen Kaffee, sie will nach Hause, in ihre Wohnung und allein sein, schlafen, oder bei Falk sein. Jarons Umarmung hat sie verwirrt, er hat sich so zart angefühlt, wie ein Bruder, nicht wie Thore, der muskulöser gewesen war, dafür umso anrührender, den kleinen flatternden Schmetterling in ihrer Magengegend verscheucht sie. Wieder taucht Falks Silhouette in ihren Gedanken auf, unwillkürlich sucht sie das überfüllte Lokal ab, hier könnte er nach ihr suchen, ohne bemerkt zu werden, jedes Gesicht versucht Luna mit den Augen zu scannen, aber Falk ist nicht darunter oder er versteckt sich geschickt. Inzwischen hat sie selbst Jaron aus ihrem Blick verloren, vielleicht ist es ihm gelungen, bis zur Theke vorzudringen; kurz darauf erblickt sie ihn, mit jemandem, den Luna nicht kennt, in ein Gespräch verwickelt. Den Kaffee hat er vergessen, denkt sie; den ganzen Abend lang hat er sich viel zu sehr um mich gekümmert, gern hat er es nicht getan, sonst wäre er zwischendurch nicht so abweisend gewesen.
Ohne lange zu überlegen, schließt sie ihre Jacke und steuert den Ausgang an, weg von hier, es bringt nichts mehr, sie war lange genug dabei, hat den Willen gezeigt, mit den Kommilitonen in Kontakt zu kommen, jetzt ist es genug. Sie hätte gleich mit den anderen Erstsemestern aus ihrer Gruppe fahren sollen, im Bus noch ein bisschen mit den vieren reden, sich für die Mittagspause am nächsten Tag in der Mensa verabreden sollen. Das war es doch, was sie eigentlich wollte, Leute kennenlernen, die dieselben Vorlesungen besuchen wie sie. Gegen Mädchen hätte Falk wahrscheinlich nichts einzuwenden.
Nach Hause, denkt sie; ins Bett. Morgen zu Falk, irgendwie erkläre ich ihm schon alles, er muss nicht eifersüchtig sein, nicht auf diesen Abend, der nichts bedeutet hat, morgen bleibe ich bei ihm, koche, richte alles schön her, damit er sich freut und sich wohlfühlt, wenn er von der Arbeit kommt. Jetzt nur nach Hause, nur hinlegen.
Am Stuttgarter Platz ist es ruhig, Luna denkt an den Abend nach dem Ausflug zum See, zu der Insel vor wenigen Tagen, genau hier hatte Falk sie abgesetzt. Noch immer rieselt ihr ein Schauer über den Rücken, wenn sie daran zurückdenkt, sie will nicht daran denken, nur schlafen, morgen ist ein neuer Tag. In der Tasche kramt sie nach ihrem Schlüssel, findet ihn nicht sofort, er kann nur in dem inneren Reißverschlussfach sein, dort steckt sie ihn immer hinein, immer. Lange vor dem Aufschließen holt sie ihn schon heraus, jedes Mal, wenn sie nach Hause kommt. Den Schlüssel schon in der Hand zu spüren, noch ehe sie die Haustür erreicht hat, verleiht ihr ein Gefühl von Sicherheit, ihr Vater hat ihr das schon vor Jahren eingeschärft: Wenn du den Schlüssel schon bereithältst und nicht erst im Dunkeln lange danach suchen musst, bist du schneller im Haus, für den Fall, dass dich jemand verfolgt . Lunas Freundinnen in Remscheid haben oft über diese Marotte
gelacht, die Luna nie hatte ablegen können. Wenn dich jemand bis zur Haustür verfolgt, hast du ohnehin keine Chance.
Von der Straßenecke her vernimmt Luna ein Geräusch und zuckt zusammen, geht schneller, endlich ist sie an ihrer Wohnung angelangt. Mit zitternden Händen schiebt sie den Schlüssel ins Schloss, es ist etwas schwergängig, müsste geölt werden, manchmal hat sie das Glück, dass die Haustür abends noch angelehnt ist. Heute ist sie geschlossen, so spät nachts ist das kein Wunder, niemand will, dass Fremde einfach so ins Haus eindringen können, in der Nähe soll ein Drogenumschlagplatz sein, hat ihre alte Nachbarin neulich gesagt.
Luna drückt gegen die Tür, versucht erfolglos, den Schlüssel zu drehen, da vernimmt sie Schritte hinter sich. Vielleicht kommt doch noch ein Nachbar, der ihr helfen kann, dessen Schlüssel vielleicht besser passt, versucht sie sich zu beruhigen, aber Lunas Herz klopft. Ist ihr jemand vom U-Bahnhof aus nachgegangen? Sie wagt nicht, sich umzublicken. Da spürt sie jäh das Gewicht einer Hand auf ihrer Schulter. Sie fährt zusammen.
»Ich bin es«, tönt Falks Stimme über ihr. »Endlich bist du
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