Dornenliebe
Herzklopfen danach. Er hat sich die Mühe gemacht, ihre Adresse herauszufinden, aber nicht, um ihr nachzuspionieren. Nicht, um Vorwürfe auf sie niederprasseln zu lassen wie schmerzende Hagelkörner. Jaron wollte sie sehen. Wollte wissen, wie es ihr geht und ob alles in Ordnung ist. Ob sie an der Uni klarkommt und ob sie glücklich ist mit Falk.
Bin ich nicht, denkt Luna. Bin ich nicht. Vielleicht werde ich es eines Tages sein, wenn ich mich anstrenge. Mit Jaron war es eben gar nicht anstrengend. In spätestens einer Stunde kommt Falk, und ich werde wieder in jeder Minute mein eigenes Verhalten überwachen, jedes Wort, das ich sage, jede Geste, die mir entfährt. Falk wird mich beobachten.
In ihrem Zimmer wirft sie sich wieder auf ihr Sofa. Aufs Lesen kann sie sich nicht mehr konzentrieren, nicht einmal auf die bunten Bilder in der neben ihr liegenden Zeitschrift. Jaron wollte mich sehen, denkt sie immer wieder und spürt dem leisen, leichten Glücksgefühl nach, das sich in ihr ausbreitet wie warmer Kakao nach einem langen Winterspaziergang. Er hat sich nach meiner Adresse erkundigt und ist extra gekommen. Er wollte mich sehen. Einfach nur mich.
9.
F alks glatt rasierte Wange an Lunas Gesicht. Sie lacht leise in sich hinein, denkt an Jaron, wie er sie kitzeln wollte, sieht ihn als Schüler vor sich, der seine Lehrer in den Wahnsinn treibt, eigentlich ist er nicht so, vielleicht hat er ein bisschen angegeben. Der Gedanke an ihn macht auch das Zusammensein mit Falk leichter, Luna hat gute Laune, vielleicht kann sie ihn damit anstecken. Falk nimmt vieles oft einfach zu ernst, zeigt so wenig Humor, vielleicht liegt das auch nur an diesem nasskalten Spätherbst, der bald in den Winter übergehen wird, viele Leute draußen verhalten sich mürrisch und unfreundlich, oft wegen Nichtigkeiten wie einem Einkaufswagen, der den Gang zwischen den Regalen im Supermarkt versperrt, oder einem schreienden Kleinkind. Luna selbst hat so lange nicht mehr gelacht, dass es ihr jetzt vorkommt, als hätte man sie aus einem zu engen, dunklen Zimmer befreit. Sie schafft es sogar zu denken: Jaron hätte Thore gefallen. Er hätte sich für mich gefreut, dass ich ihn kennengelernt habe. Wenn ich mit ihm lache, muss ich kein schlechtes Gewissen haben. Natürlich vermisse ich meinen Bruder trotzdem.
»Du strahlst heute so«, bemerkt Falk. An diesem Abend hat sie sich überreden lassen, ihn in einen Jazzkeller zu begleiten, obwohl sie die Musik nicht mag; Luna erkennt keine Melodien, keinen Rhythmus im Free Jazz, nach einer Weile bekommt sie Kopfschmerzen davon. Heute
nicht. Am Nachmittag hat sie die Gliederung für eine Hausarbeit in Pädagogik geschafft und sogar die Einleitung und den ersten Unterpunkt entworfen. Morgen will sie versuchen, dem »Streberkleeblatt« etwas mehr zu entlocken als nur die neuesten Lerntipps und die aktualisierte Literaturliste zum Thema der nächsten Englischklausur. Wer von ihnen einen Freund hat, zum Beispiel. Wo sie einkaufen gehen, wenn sie etwas zum Anziehen brauchen. Vielleicht trifft sie Jaron in der Pause. Ein paar belanglose, heitere Worte sind nicht verboten.
»Möchtest du mir nichts dazu sagen?« Falks Stimme reißt sie aus ihren Gedanken, reflexartig strafft sie ihren Körper und schaltet das Lächeln aus, das eben noch ihre Lippen umspielt hat.
»Was - ach so, ich strahle? Ist mir nicht aufgefallen. Ich find’s einfach schön hier mit dir, das ist alles.«
»Du hast aber nicht zu mir geschaut«, beharrt Falk. »Sondern regelrecht durch mich hindurch, Luna. Und jetzt erzählst du mir, an wen du dabei gedacht hast.«
Luna schweigt. Kommt sich vor, als sei ihr Kopf aus Glas und Falk könne durch ihre Schädeldecke bis in ihr Gehirn schauen, jede einzelne Windung erforschen, in ihr Innerstes vordringen. Sie hat an Jaron gedacht und dieser Gedanke hat ihre Augen zum Glänzen und ihren Mund zum Lächeln gebracht. Sie hat das nicht gewollt. Falk ist der Mann, mit dem sie zusammen ist, Jaron hat ihr nur ein Minimum an Lebensfreude zurückgebracht, ein harmloses Schweben, hat sie daran erinnert, dass sie jung und in Berlin ist und dass das Leben weitergeht. Dass Wunden nicht wirklich heilen können, aber dass selbst schlimmste Narben mit der Zeit ein wenig geschmeidiger werden, wenn man sie pflegt, Rücksicht auf sie nimmt, sobald sie wieder schmerzen, aber dass sie kein Grund sind, sich ihretwegen fortwährend einzuschränken.
»Antworte«, fordert Falk scharf.
»Ich habe an nichts Bestimmtes
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