Dr. Bill Brockton - 04 - Todesstarre
allmählich und verwischten sich und verschwanden manchmal sogar ganz. Bei 09-02 waren die Oberkiefernähte gänzlich verschmolzen, doch ihre Linien waren noch deutlich gezeichnet. »Die Oberkiefernähte sind voll verschmolzen, also wissen wir, dass er erwachsen war«, sagte Miranda, »aber wahrscheinlich war er ein junger Erwachsener. Kein alter Knacker, so viel ist sicher.« Ich lächelte über die Art, wie Miranda zwischen wissenschaftlichem Jargon und Umgangssprache hin und her wechselte.
»Ich spare uns hier jetzt ein wenig Zeit«, sagte ich. »Ich weiß, dass Sie die Grundlagen draufhaben. Wahrscheinlich können Sie inzwischen das ganze Osteologie-Handbuch auswendig, stimmt’s?«
»Ein paar Spezifika auf Seite zwei sind mir noch nicht ganz klar«, sagte sie.
»Was steht auf Seite zwei?«
»Das ganze Zeug über die Library of Congress und das Copyright«, sagte sie.
»Ich würde mir Sorgen machen, wenn Sie darauf Hirnschmalz vergeudeten. Okay, weiter geht’s. Statt mir das ganze Skelett zu erklären, zeigen Sie mir, woran wir Ihrer Meinung nach das Alter präziser bestimmen können.«
»An drei Dingen«, sagte sie. »Erstens, dem vorderen Beckenkamm.« Sie zeigte auf den großen, gebogenen Rand des Hüftknochens und fuhr mit dem Finger eine Linie am Rand entlang. Dort markierte eine schwache Naht ein Gelenk in dem breiten Knochen, als hätte der Schöpfer befunden, die Hüfte wäre einen Hauch zu schmal, und hätte sich noch einmal drangesetzt und am äußeren Rand einen Knochensplitter hinzugefügt. Es war natürlich kein nachträglicher Einfall, sondern eine Epiphyse, ein Gelenk, das offen war, solange die Knochen wuchsen, und sich nach dem letzten Wachstumsschub schloss. »Die Epiphyse ist vollständig geschlossen, das deutet darauf hin, dass er mindestens Anfang zwanzig war, vielleicht auch Mitte zwanzig oder älter. Mit anderen Worten, im besten Alter.« Sie wackelte mit den Augenbrauen, und ich lächelte. Miranda war zwischen Mitte und Ende zwanzig.
»Bis jetzt folge ich Ihnen«, sagte ich, »obwohl mein Hirn weit über seine Blütezeit hinaus ist. Zweitens?«
»Zweitens, die Schambeinfuge.« Sie hob die beiden Hälften des Schambeins hoch und zeigte mir die Stelle, an der sie in der Mittellinie des Körpers aufeinandertrafen. »Die Schambeinfuge zeigt sehr viel Abschrägung im ventralen Bereich«, meinte sie und zeigte auf den hinteren Teil des Gelenks. »Das deutet auf Ende zwanzig oder älter.«
»Basiert diese Einschätzung auf der Arbeit von Todd, McKern und Steward oder Suchey?«
»Auf allen miteinander«, sagte sie.
Ich lächelte. »Gute Antwort. Drittens?«
»Drittens ist immer das Wichtigste«, sagte sie. »Drittens, die Klavikula.« Sie nahm das linke Schlüsselbein, das in der Nähe der Tischkante lag, und zeigte auf eine schwache, glatte Naht in der Nähe jenes Endes, das mit der Schulter verbunden war. »Diese laterale Epiphyse ist vollständig verschmolzen, was zu erwarten ist, da der Kerl erwachsen ist. Doch die mittlere Epiphyse …«, sie zeigte auf eine ausgefranste, unvollständige Naht am anderen Ende des Knochens, »… ist noch nicht ganz zu, sie unterläuft noch letzter Verwachsung.«
»Und das lässt Sie welchen Schluss ziehen?«
»Dass GI Doe dreißig war. Plus, minus ein, zwei Jahre.«
»Bravo«, sagte ich. »Ich bin ganz Ihrer Meinung. Und jetzt sehen wir uns die Traumata an. Haben Sie, abgesehen von der Kopfwunde, irgendwelche Skeletttraumata entdeckt?«
»Nichts«, antwortete sie. »An einigen Wirbeln finden sich geringe osteoarthritische Knochenauswüchse, doch das sind nur beginnende altersbedingte Abnutzungserscheinungen, keine Traumata. Nein, ich glaube, ein Schuss in den Kopf hat ihn erledigt.«
Ich nahm den Schädel und maß mithilfe eines Tasterzirkels die Eintrittswunde an der rechten Seite. Das Loch war fast vollkommen rund, aber nicht ganz. An der weitesten Stelle maß es gut acht Millimeter – ungefähr die Größe einer Kugel Kaliber zweiunddreißig. An der schmalsten Stelle jedoch, und das war die entscheidende Größe, maß das Loch nur etwas mehr als sechs Millimeter. Damit war es zu klein, um von etwas Größerem als Kaliber zweiundzwanzig zu stammen. Ohne den Schädel aufzusägen, gab es keine Möglichkeit, den Greifzirkel in den Schädel hineinzubekommen, um den Durchmesser des Loches dort zu messen, wo das Geschoss durch den Knochen gebrochen und in das Gehirn eingedrungen war, doch ich leuchtete mit der Minitaschenlampe an meinem
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