Drachenboot
»Wenn wir nicht über die Wälle oder durch das Tor kommen können, dann müssen wir eben über das Tor gehen.«
Es wurde still, und die, die es nicht richtig verstanden hatten, fragten ihre Nachbarn, was Kvasir gesagt hatte. Als sie es erfuhren, waren sie allerdings nicht klüger als wir anderen, also erklärte er es, und uns wurde klar: Während wir geredet hatten, hatte er nachgedacht.
Als er uns seinen Plan erklärt hatte, prüften wir ihn gemeinsam noch einmal auf mögliche Schwachstellen, bis wir zugeben mussten, dass Kvasir mit seinem einen Auge wieder einmal mehr gesehen hatte als wir anderen mit zweien.
»Könnt ihr das wirklich?«, fragte Dobrynja, als ich an sein Feuer zurückkam und ihm berichtete, was meine Männer am Morgen machen wollten.
»Wir werden es tun«, erwiderte ich, »denn wir sind die Eingeschworenen.«
Ich bemühte mich, meiner Stimme die nötige Festigkeit zu geben, damit er nicht ahnte, was ich wirklich von dem Plan hielt.
Dobrynja sah Sigurd an, dann blickte er auf den schlafenden Wladimir, an den sich Olaf angeschmiegt hatte, und nickte müde. Ich hockte mich neben ihn, und wir starrten ins Feuer, während die beiden vorsichtig tastend herauszufinden suchten, was sie als Vertraute und Berater Wladimirs wissen mussten – nämlich, ob mich dieser kleine Prinz so verärgert hatte, dass ich ihn im Stich lassen oder, was noch schlimmer wäre, auf Rache sinnen würde.
Dazu hatte ich keinen Grund, und ich ersparte ihnen die Frage.
»Er hat unser Leben geschont«, sagte ich und blickte ins Feuer, »und dafür versprach ich, dem Prinzen zu helfen. Zwar ist es richtig, dass ich darauf keinen Schwur geleistet habe – denn wie ihr wisst, legen wir unseren Schwur nur voreinander und vor Odin ab – aber trotzdem werde ich dieses Versprechen halten.«
Es war still. Das Feuer zischte, weil in dem gefrorenen Holz immer wieder Eisstückchen steckten. Dann räusperte sich Dobrynja.
»Er ist noch jung, er wird noch reifen«, sagte er. »Später wirst du die Freundschaft eines solchen Prinzen vielleicht einmal zu schätzen wissen. Durch den Tod seines Vaters ist all das zu früh für ihn gekommen, es traf ihn völlig unvorbereitet.«
Ich nickte. Die Freundschaft eines Prinzen würde mir tatsächlich einmal nützlich sein, wenn ich diesen Winter überlebte – oder wenn er ihn überlebte. Das sagte ich auch, und Sigurd grinste, wobei die Haut um seine silberne Nase weiß wurde.
»Ich habe im Leben die Erfahrung gemacht«, brummte er, »dass es immer Menschen gibt, die zu Großem bestimmt sind. Und Wladimir ist so ein Mensch – genau wie der kleine Olaf. Sie werden überleben.«
Selbst wenn alle anderen umkommen, dachte ich. Der kleine Olaf lächelte im Schlaf, sodass seine Zähne im Feuerschein blutrot aussahen, als hätte er eine frisch geschlagene Beute vor sich. Und dennoch, trotz all seiner kindlichen Grausamkeit und seines merkwürdigen Seidr-Zaubers hatte er fast immer Angst. Er war furchtsam und allein, trotz seines Onkels Sigurd und seiner fernen, unbekannten Verwandtschaft. Denn im Grunde war er immer noch Klerkons Eigentum und wartete vergeblich darauf, von seiner Familie gerettet zu werden.
Neben ihm bewegte sich Wladimir und stöhnte leise im Schlaf. Auch er war jetzt nichts weiter als ein schlafender kleiner Junge, der keinen Vater hatte, mit dem er die ernsthaften Gespräche hätte führen können, die für einen Jungen seines Alters so wichtig sind.
Ich wusste, wie den beiden zumute war, und deshalb wollte ich bei ihnen bleiben.
In dieser Nacht träumte ich von Hild, der Frau, die uns damals zu Attilas Grab geführt hatte und die dort dem Wahnsinn verfiel – oder vielleicht hatte die Fylgja von Attilas toter Braut von ihr Besitz ergriffen. Der Legende zufolge hatte seine Braut ihn getötet und war in seinem Grab lebend an seinen Thron gekettet worden.
Ich sah Hild, wie sie mir zuletzt erschienen, das Haar wie sich windende schwarze Schlangen, das Schwert in der Hand, das der Zwilling meines eigenen war und wie ein Blitzstrahl zuckte, als sie in die Dunkelheit entschwand und mir mit schriller Stimme ihre Verwünschungen hinterherschrie, während das Wasser anstieg, um sie zu verschlingen.
Mir war egal, was Finn glaubte. Ich wusste, dort draußen in der Steppe war Hild oder so etwas wie ihr Folgegeist, um Attilas eigene Eingeschworene gegen uns anzuführen.
Als der nächste Morgen dämmerte, waren wir zu erschöpft, um richtig wach zu werden, und auch, als wir
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