DrachenHatz
Unterbewusstsein auf diese Weise lediglich vergewissern wollen, dass er überhaupt noch körperlich anwesend war. Denn jetzt klappte er auch noch den Laptop zu, stand auf und verschwand nach einem freundlichen Nicken in meine Richtung in seinem Schlafzimmer. Ich hätte heulen können. Oder auf dem Tisch trommeln. Tat ich aber beides nicht. Stattdessen las ich verbissen weiter, denn an Schlaf war garantiert nicht zu denken.
Also, wo war ich? Bei der Trauer einer Mutter über ihr ermordetes Kind. Und an dieser Stelle schweiften meine Gedanken nun endgültig ab: Greta natürlich. Ich hatte doch genau so einen Fall vor Augen und erlebte selbst, wie heftig die arme Frau mit sich rang. Obwohl hier natürlich noch verschärfend hinzukam, dass sie ihren Jungen selbst getötet hatte. Dies machte die ganze Angelegenheit selbstverständlich viel schwerer und kaum noch tragbar für sie.
Unkonzentriert blätterte ich weiter, bis ich schließlich in Kapitel siebzehn fast eine Vollbremsung hinlegte. Ich las es noch einmal, diesmal sehr, sehr sorgfältig, mit trockenem Mund und einem Herzschlag, der trudelte, als hätte ich massive Rhythmusstörungen. Ich wusste natürlich, dass dies bestimmt nicht half, doch ich stürzte ein halbes Glas Wein in einem Zug hinunter. Der Verdacht war ungeheuerlich! Absurd!
Aber die Frau, die Cornwell hier als Mutter und Mörderin beschrieb, kannte ich: Greta. Die bemitleidenswerte, wegen ihres zu Herzen gehenden tragischen Schicksals von allen unendlich bedauerte Frau, die wie die Täterin bei Cornwell offenkundig unter dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom litt.
XIII
Mehrere Minuten lang saß ich einfach da, wie ein Ochse, der gleich mit dem Vorschlaghammer eins auf den Schädel bekommen soll, bevor er dann abgestochen wird. Das konnte doch nicht wahr sein! Ich musste mich irren, weil ich durch den Streit mit Thomas müde und überreizt war. Und der Wein hatte dann das Übrige getan.
Nein. Ich wusste genau, dass dem nicht so war. Ich fühlte mich stocknüchtern, und mein Herzallerliebster interessierte mich in diesem Moment nicht die Bohne. Ganz sicher war ich schließlich, als ich in dem Buch von dem versalzenen Essen las, das Frauen mit dieser Krankheit relativ häufig ganz gezielt einsetzen. Klar, Salz ist problemlos zu besorgen, beizumischen und dem kindlichen Opfer in einer knackigen Überdosierung als liebevoll gekochte Mahlzeit unterzujubeln. Außerdem kann man sich problemlos auf ein Versehen berufen, wenn es doch zu einem Protest kommt. Ich dachte an Almuth Pomerenke. Und dass ich den Verdacht gehabt hatte, sie wollte mir genau an diesem Punkt ihrer Erzählung zu verstehen geben, dass irgendetwas mit Greta nicht stimmte. Sie war sehr vorsichtig, sehr vage geblieben, was nur natürlich war, schließlich ging es um ihre Tochter. Doch dass sie mir diesen Eindruck vermittelt hatte, ich jedoch überhaupt nichts damit anzufangen wusste, daran erinnerte ich mich genau.
Oh Gott. Ich spürte, wie mir schlecht wurde. Ich schoss hoch und sauste ins Bad, wo ich die Meerforelle der Toilettenschüssel übergab. Danach ging es mir ein wenig besser. Ich wusch mir das Gesicht und putzte die Zähne. Beides wiederholte ich noch einmal. Und dann brauchte ich dringend jemanden zum Reden. Wirklich dringend. Also marschierte ich nach kürzester Überlegung in Thomas’ Zimmer und knipste das Licht an. Sollte er auch jetzt nicht einsehen, dass die Angelegenheit keinen Aufschub duldete, war für uns sowieso Hopfen und Malz verloren. Schließlich handelte es sich um eine Art Notfall.
Er schlief bereits, doch ich rüttelte ihn energisch wach. Benommen blinzelte er mich schließlich an. »Hanna … was …?«, nuschelte er.
»Greta ist krank«, stieß ich, alle Zurückhaltung fahren lassend, atemlos hervor. »Sie leidet unter dem Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom, und die Sache mit den Anrufen, der Ratte und der Verwüstung der Wohnung ist erfunden. Es ist alles erstunken und erlogen, Thomas, stell dir das vor! Hier steht es drin.« Ich ließ mich auf die Bettkante fallen und holte tief Luft, während ich vor seiner Nase mit Cornwells ABC-Morden herumwedelte. »Damit sie alle bemitleiden. Denn nur darum geht es ihr bei der ganzen Angelegenheit.«
Thomas hatte sich bei meinen Worten ruckartig aufgesetzt und betrachtete mich jetzt misstrauisch. Na ja, vielleicht hätte ich ihm eher kleinere Bröckchen verabreichen sollen. Dies war natürlich starker Tobak, das sah ich ohne Weiteres ein.
»Es
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