Drachensturm
wurde. Kemaq zog sich mit dem Gefühl zurück, einer schrecklichen Gefahr entronnen zu sein. Aber als der Diener ihn in die Kammer führte, hatte er eine Vorahnung, dass sich eine andere Gefahr über ihm zusammenbraute, noch unsichtbar, doch vielleicht noch größer als die, die hinter ihm lag.
Mila kniete in der Kapelle und lauschte in die Dunkelheit. Es war Abend geworden. Vor der Tür hielt Don Mancebo Wache. Sie hörte seine ruhigen Atemzüge, und gelegentlich marschierte er ein paar Schritte auf und ab. Der Maure hatte sich ihr als Mentor angeboten, ein Angebot, das sie gerne angenommen hatte, schon weil sie vermutete, dass es den Tressler ärgerte. Der Hochmeister hatte außerdem darauf bestanden, dass der Gang vor der Kapelle bewacht wurde. Die Meldungen über Indio-Spione, die sich in der Nähe der Festung herumtrieben, und dieser rätselhafte Schatten, den Konrad auf der Mauer gesehen haben wollte – das alles beunruhigte den Hochmeister. Mila wusste, dass im Gang weitere Bewaffnete auf und ab gingen. Sie hörte sie manchmal halblaut miteinander reden. Der Geruch von gebratenem Fleisch drang durch das einzige Fenster ein. Einer der Drachen hatte ein Lama vor der Stadt gerissen und den Rittern gebracht, angesichts der knappen Vorräte eine sehr willkommene Gabe. Sie brieten es hinter dem Palast, und Mila konnte den Duft sehr gut wahrnehmen. Besonders rücksichtsvoll fand sie das nicht, war sie doch verpflichtet, bis zum Ritterschlag zu fasten. Die Beichte lag hinter ihr, und sie hatte dem Fray das Erlebnis mit dem Inneren Auge verschwiegen, aber der Mönch hatte es nicht bemerkt, nicht einmal Verdacht geschöpft. Dafür hatte er sie gemahnt, nicht länger feindselige Gefühle gegen den Tressler und die beiden Brüder von Wolfegg zu hegen. Es seien gute Christen, und aus Abneigung könne leicht Missgunst entstehen, was ihrer unwürdig sei. Mila wusste, dass der Mönch Recht hatte, aber was sollte sie machen? Sie konnte weder Balian noch seinen Bruder Konrad oder den Tressler besonders leiden. Jetzt war der Mönch in der Kammer nebenan, und sie hörte ihn zum wiederholten Male murmelnd den Rosenkranz beten.
Sie riss sich zusammen. Sie war in einer Kapelle, und sie wusste, dass ihr gegenüber das schlichte Holzkreuz hing, das der Fray mit in diese Stadt gebracht hatte. Die Stadt. Sie hatte sie gesehen. Nur eine Sekunde lang, geisterhaft, blass. Nabu hatte sie ihr gezeigt. Ein Schauer lief ihr über den Rücken. Sie konnte dieses Bild nicht vergessen, es war das Einzige, das sie je gesehen hatte, mit Ausnahme der bleichen Flammen, als die sie die Drachen kurz wahrgenommen hatte. Die Berge, die Wüste, die Stadt. Warum hatte er sie nicht mehr sehen lassen? Er konnte es doch, oder? Sie würde ihn fragen, morgen. Sie musste einfach mehr sehen. Ihr ganzes beinahe neunzehnjähriges Leben hatte sie in dunkler Nacht verbracht. An diesem Abend bemerkte sie zum ersten Mal, wie finster diese Nacht sein konnte. War es das, wovor Nabu sie bewahren wollte – dieses beinahe schmerzhafte Gefühl von Verlust?
Von draußen drangen flüsternde Stimmen durch das kleine Fenster der Kapelle ein. Zwei Männer unterhielten sich. Mila war dankbar für die Ablenkung. Die beiden sprachen aber so leise, dass sie nichts verstand. Sie hörte immerhin heraus, dass sie Deutsch sprachen. Sie runzelte die Stirn. Obwohl beide Männer flüsterten, war sie sich beinahe sicher, dass einer von ihnen Balian von Wolfegg war. Sie hätte vielleicht etwas mehr verstanden, wenn der Fray nicht nebenan immer noch seine Gebete vor sich hin gemurmelt hätte, doch sie konnte ihn ja schlecht bitten, damit aufzuhören. Sie durfte auch ihre Andacht nicht unterbrechen. Sie sagte sich, dass sie das, was draußen gesprochen wurde, auch nichts anging, und dass es klüger war, ihre Seele für den morgigen Ritterschlag zu stärken. Dennoch lauschte sie und rutschte sogar etwas näher an das Fenster heran. Den Namen Pizarro hörte sie mehrfach, und auch von Meister Albrecht, dem Alchemisten, war die Rede. Nun, der Konquistador und seine Flotte waren überfällig und wurden sehnsüchtig erwartet, das war also nichts Ungewöhnliches. Aber warum sprachen die beiden da draußen so leise? Als gelte es, etwas vor unberufenen Ohren zu verbergen, und das ausgerechnet beim stets lauten Ritter Balian?
Der andere Mann räusperte sich, und jetzt erkannte ihn Mila: Es war Konrad. Mila hörte, dass Balian wütend war, ja, er machte seinem Bruder bittere Vorwürfe. Vielleicht
Weitere Kostenlose Bücher