Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
Wunden
an ihrer Kehle bemerkte, die sie bei Tag stets sorgfältig verbarg. »Lucy, die Male an deinem Hals, die ich so ungeschickt
mit meiner Schalnadel verursacht habe, sind immer noch nicht verheilt, sondern offen und rot. Und sie scheinen gar größer
als zuvor.«
»Ich habe dir doch gesagt, dass sie mir nichts ausmachen«, sagte sie und bedeckte die Wunden mit der Hand. »Nun lass mir meine
Ruhe. Ich brauche meinen Schlaf.«
»Falls sie in einigen Tagen nicht besser geworden sind«, beharrte ich, »rufe ich einen Arzt.«
Am nächsten Morgen war Lucy außergewöhnlich blass und weigerte sich, das Bett zu verlassen. Obwohl ich sie nicht gern allein
ließ, bestand sie darauf, dass ich ohne sie aus dem Haus ging, um den Tag zu genießen, und sie schlafen ließ. Ich nahm mir
eine Zeitschrift und machte mich auf den Weg. Ich wollte einige Stunden auf der Ostklippe verbringen. Der Himmel war grau
und bewölkt. Gerade ging ich, tief in Gedanken versunken, am Fischmarkt vorüber und näherte mich der Brücke, als eine vertraute
Stimme mich aus meinen Grübeleien aufschreckte.
»Fräulein Murray?«
Ich schaute hoch und sah nur wenige Meter entfernt, gleich bei der Treppe, die zur Brücke führte, Herrn Wagner stehen. Wie
immer begann bei seinem Anblick mein Herz einen wilden Trommelwirbel zu schlagen. Heute wirkte er besonders elegant und trug
einen modischen Strohhut auf dem dunklen Haar. »Herr Wagner.«
»Was für ein schöner Morgen.«
»Finden Sie? Für meinen Geschmack ist es ein wenig zu bedeckt. Doch zumindest sieht es nicht nach Regen aus.«
|92| »Das ist auch gut so, denn ich habe gerade ein Boot gemietet.«
»Sie haben ein Boot gemietet?«, wiederholte ich überrascht.
»Ja, das blaue gleich da drüben.« Er deutete auf ein kleines Ruderboot, das ganz in der Nähe der Brücke vertäut war. »Hatten
Sie schon Gelegenheit, auf dem Fluss zu fahren?«
»Nein, bisher nicht. Lucy und ich wünschen uns das schon, seit wir in Whitby angekommen sind. Doch nun ist sie nicht mehr
gesund genug, um einen solchen Ausflug zu machen.«
»Es tut mir leid, das zu hören. Sie wäre sicherlich eine wunderbare Begleiterin gewesen. Aber da sie schon nicht anwesend
sein kann, wäre es doch sicher äußerst nachlässig von mir, wenn ich mich nicht anbieten würde, Sie auf einer kleinen Flussfahrt
zu begleiten? Ich habe mir sagen lassen, dass es etwa eine Meile flussaufwärts ein reizendes Fleckchen zu besuchen gibt.«
Es war ein verlockendes Angebot, und ich überlegte kurz, dass ich es gern annehmen würde. Aber wie konnte das sein? Mit tiefem
Bedauern antwortete ich: »Ich weiß Ihre Einladung zu schätzen, Sir, aber leider hindert mich die Wohlanständigkeit, sie anzunehmen.«
»Die Wohlanständigkeit?«
»Die Tänze mit Ihnen, Sir, habe ich genossen, sehr sogar, aber das war in einem Pavillon voller Menschen. Mit Ihnen ohne Anstandsdame
eine Flussfahrt zu machen, das wäre schlicht undenkbar.«
»Undenkbar?« Ein leises Lächeln spielte um seine Lippen, während er auf die wenigen Fremden schaute, die an uns vorübergingen
und uns keinerlei Beachtung schenkten. Dann sah er wieder zu mir hin. »Liegt Ihnen wirklich so viel daran, Fräulein Murray,
was die Leute über Sie denken würden? Wer wird denn schon erfahren, wen wird es kümmern, ob Sie heute einige Stunden auf dem
Fluss verbringen – mit oder ohne Anstandsdame? Warum schlagen Sie nicht alle Vorsicht in den Wind, nur dieses eine Mal?«
|93| Ich konnte mich eines Lachens nicht erwehren. Ich dachte bei mir: Mina Murray, du hast zweiundzwanzig Jahre lang ein ruhiges,
wohlbehütetes Leben geführt und dich stets äußerst wohlanständig verhalten. Wer wird überhaupt davon erfahren? Wen wird es
scheren? Lucy hatte mir doch gesagt, ich sollte den Tag genießen. Befolge Lucys Rat! Genieße deinen letzten Sommer am Meer,
ehe du einen ruhigen Hausstand gründest!
»Sie haben recht, Sir. Ich sollte ab und zu alle Vorsicht in den Wind schlagen. Es würde mir größtes Vergnügen bereiten, eine
Bootsfahrt mit Ihnen zu unternehmen.«
Er lächelte und streckte die Hand aus. Ich ergriff sie, und wieder lief mir bei seiner Berührung ein wohliger Schauer über
den Rücken. Als er mich nun die Treppen zum Ruderboot hinuntergeleitete und mir hineinhalf, warf ich alle Schuldgefühle über
Bord und gestattete mir einen Hauch freudiger Erregung. Es ist völlig akzeptabel, sagte ich mir, gelegentlich ein wenig
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