Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
Ich eilte in mein Zimmer hinauf, wo ich
auf das Bett niedersank und in Tränen ausbrach.
Oh, die Irrungen und Wirrungen des Menschenherzens! Es ließ sich nicht mehr leugnen: Ich hatte mich in Herrn Wagner verliebt!
Wahnsinnig, bis über beide Ohren, verzweifelt verliebt! Wie war es möglich, überlegte ich betrübt, zwei Männer gleichzeitig
zu lieben? Denn ich liebte meinen Ehemann von ganzem Herzen. Doch meine Gefühle für Jonathan waren |232| etwas völlig anderes als das, was ich für Herrn Wagner empfand. Sie waren ruhiger und besonnener, bauten auf einer lebenslangen
Freundschaft und auf Respekt auf.
Andererseits brachte der bloße Gedanke an Herrn Wagner mein Herz zum Rasen. Wenn ich in seiner Gesellschaft war, seine Stimme
hörte, seine Berührung spürte, war ich wie elektrisiert und erregt wie noch nie zuvor. Als ich mich von ihm verabschiedete,
hatte ich das Gefühl, mein Körper würde in zwei Stücke gerissen. Doch welche andere Wahl blieb mir? Keine. Keine! Ich war
eine verheiratete Frau. Wenn ich mich in seiner Gesellschaft befand, war ich in Versuchung – war es von Anfang an gewesen.
Und ich vermochte ihm kaum zu widerstehen. Ich war bereits weit über die Grenzen aller Wohlanständigkeit hinausgegangen, indem
ich so viel Zeit mit ihm allein verbracht hatte. Doch meine sehnsüchtigen Gedanken spotteten vollends jeglichem Anstand und
jeder Moral.
Einige Minuten lag ich auf dem Bett und weinte bitterlich. Doch das, so viel wusste ich, war keine Lösung. Ich nahm all meine
Kraft zusammen, trocknete mir die Tränen und sprach laut die Zeilen meines liebsten Shakespeare-Sonetts vor mich hin:
… Lieb’ ist nicht Liebe, wenn sie Störer stören,
Wenn sie Zerstreuung irrend kann zerstreun.
O nein! sie ist ein ewig sichres Ziel,
Thront unerschüttert über Sturmeswogen … 2
Meine Liebe zu Jonathan, rief ich mir in Erinnerung, die war ein ewig sichres Ziel. Sie war beständig und treu. Sie wurde
nicht von Sturmeswogen erschüttert, sie war kein Narr der Zeit, wurde nicht von Zeitläuften verändert. Ich hatte die Versuchung
verspürt, aber ich war ihr nicht erlegen. Meine Liebe würde beharren, wie Shakespeare es geschrieben hatte, sogar »bis an
Weltgerichtes Rand«.
|233| Ich schaute auf die Uhr, die auf dem Kaminsims stand. Es war beinahe halb neun. Dr. Seward musste sich fragen, was wohl aus
mir geworden war. Ich ging zum Waschbecken, besprengte mein Gesicht mit Wasser und richtete mir das Haar. Ich war entschlossen,
meinen heftigen Gefühlswallungen ein Ende zu setzen und meinen abendlichen Ausflug für mich zu behalten.
Ich ging nach unten in Dr. Sewards Arbeitszimmer, wo ich ihn, in die Lektüre meiner mit der Maschine geschriebenen Seiten
vertieft, am Schreibtisch sitzend fand. Als er mich sah, sprang er auf. »Frau Harker, ich habe der Köchin sagen lassen, sie
solle mit dem Nachtessen noch warten, weil ich Sie nicht stören wollte.«
»Vielen Dank«, antwortete ich, weil ich erleichtert war, dass er mich nicht vermisst hatte.
Er blickte mich besorgt an. »Geht es Ihnen gut?«
Ich log: »Ja, obwohl ich an die arme Lucy gedacht habe und an alles, was Jonathan mitgemacht hat.«
»Ah, ich verstehe Ihre Sorge. Ich habe Ihr Tagebuch und mehr als die Hälfte von den Aufzeichnungen Ihres Ehegatten gelesen.
Sie hatten recht, Frau Harker. Sie haben beide sehr viel durchgemacht. Ich hätte Ihnen eigentlich schon viel früher vertrauen
sollen, weil Lucy so gut von Ihnen gesprochen hat.« Er kam um den Schreibtisch herum zu mir geeilt. »Sie sagten, Sie wollten
wissen, wie Lucy gestorben ist.«
»Ja.«
»Ich warne Sie. Es ist eine entsetzliche Geschichte, doch wenn Sie sie noch immer hören wollen …«
»Ja, das will ich, Herr Doktor.«
»Dann können Sie sich jederzeit meine Aufzeichnungen mit dem Phonographen anhören.«
Nach dem Essen kehrten wir in Dr. Sewards Arbeitszimmer zurück, wo er mich bat, in einem bequemen Lehnstuhl neben |234| dem Phonographen Platz zu nehmen. Er zog eine große Schublade auf, in der geordnet eine Anzahl hohler Metallzylinder mit dunklem
Wachsüberzug standen. Anstatt eine auszuwählen, hielt er plötzlich inne und sagte dann: »Wissen Sie, obwohl ich das Tagebuch
seit Monaten führe, habe ich doch nie darüber nachgedacht, wie ich es bewerkstelligen könnte, einen speziellen Teil meiner
Aufzeichnungen daraus herauszulösen, wann immer ich seiner bedürfte. Sie werden sich leider alles von
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