Dracula, my love - das geheime Tagebuch der Mina Harker
Lippen in die Höhe zog, um ihm ihre scharfen
weißen Eckzähne zu zeigen. »Sie ist eine Untote! Hier ruht sie bei Tag, und bei Nacht streift sie herum. Mit diesen Zähnen
hier können die Kinder gebissen worden sein. Lucy ist ein junger Vampir. Sie hat sich zunächst sehr junge Opfer gesucht und
noch keinem das Leben genommen. Doch mit der Zeit wird sie auch größere Opfer anfallen und eine Gefahr für jedermann werden.«
Mit einem traurigen Seufzer fügte Dr. van Helsing hinzu: »Es tut mir so furchtbar leid, diese Schönheit in ihrem Schlafe töten
zu müssen.«
|239| Dr. Seward war zu Tode erschrocken. Sein Entsetzen wuchs noch, als van Helsing ihm entdeckte, welche Methode man für das Töten
der Untoten kannte: Man musste ihnen einen Pfahl durch den Leib treiben, ihnen den Mund mit Knoblauch füllen und den Kopf
abtrennen. Der bloße Gedanke, dass der Körper des Mädchens, das er so geliebt hatte, auf diese Weise verstümmelt würde, erregte
Dr. Seward höchstes Grauen. Und doch: da Lucy ja bereits tot war, war es vielleicht gar nicht so entsetzlich, sie noch einmal
zu töten?
Dr. van Helsing beschloss, mit dieser letzten Tat noch ein wenig zu warten. Er fürchtete, Arthur, der immer noch nicht glauben
mochte, wie lebendig Lucy im Tode ausgesehen hatte, könnte vielleicht auf ewig von schrecklichen Träumen gequält werden, weil
er argwöhnte, sie hätten womöglich den entsetzlichen Fehler begangen und seine Geliebte bei lebendigem Leibe begraben.
So kam es, dass Dr. van Helsing und Dr. Seward in den frühen Morgenstunden des 29. Septembers Arthur und Quincey alles enthüllten,
was sie herausgefunden hatten und was sie zu tun beabsichtigten. Nur mit größter Beharrlichkeit konnte van Helsing ihre Zweifel
zerstreuen und sie dazu bringen, ihm Glauben zu schenken. Denn sie hatten eine große und schreckliche Tat zu vollbringen.
Doch ohne ihren Segen wollte er sie nicht ausführen.
Während ich mir Dr. Sewards Bericht über die nun folgenden Ereignisse anhörte, erschienen mir die grausigen Bilder, die er
beschrieb, so lebhaft vor dem geistigen Auge, dass ich das Gefühl hatte, alles selbst miterlebt zu haben.
Später an jenem Abend wies Dr. van Helsing den drei Männern auf dem Kirchhof nach, dass Lucys Sarg wieder leer war. Er verschloss
die Gruft der Familie Westenra und versiegelte die Vertiefungen rings um die Tür mit einem Kitt aus zerkrümelten Hostien,
den er aus Amsterdam mitgebracht hatte und der laut seiner Aussage der Untoten den Eintritt unmöglich machen würde. Nun warteten
die vier Männer in |240| drückendem Schweigen zwischen den Grabsteinen. Nach einiger Zeit erblickten sie eine Frau, die sich auf die vom Mondlicht
erhellte Gruft zubewegte, weiße Sterbekleider trug und ein kleines Kind in den Armen hielt.
»Ich konnte Arthur stöhnen hören«, erklärte Dr. Seward, »als Lucy Westenras Züge zu erkennen waren. Lucy Westenra, aber auf
wie furchtbare Weise verändert! Ihre Lieblichkeit schien sich in harte, herzlose Grausamkeit und ihre Reinheit in Wollust
verwandelt zu haben.«
Van Helsing hob die Laterne. Die Männer schauderten von Entsetzen, denn Lucys Lippen waren mit frischem Blut befleckt, das
in einem dünnen Streifen über ihr Kinn herabgeronnen war und das weiße Totenkleid rot gefärbt hatte. Als Lucy – oder das Wesen,
das einmal Lucy gewesen war – die Männer sah, prallte sie mit einem ärgerlichen Knurren zurück und warf das Kind, das sie
bisher an die Brust gedrückt hatte, von sich. Als das Kind jammernd am Boden lag, verzogen sich Lucys Lippen zu einem lüsternen
Lächeln, und sie bewegte sich mit ausgebreiteten Armen auf Arthur zu.
»Komm zu mir, Arthur«, sagte sie in so teuflisch süßem Ton, dass es den Männern wie singendes Glas in den Ohren klang. »Verlasse
diese anderen und komm zu mir. Mein Körper verzehrt sich nach dir, komm, dann legen wir uns beide nieder! Komm zu mir, mein
Gatte, komm!«
Arthur war starr vor Schrecken, öffnete aber weit und sehnsüchtig die Arme, als stünde er unter einem Bann. Doch van Helsing
warf sich zwischen die beiden und hielt ein goldenes Kruzifix hoch, vor dem der Vampir Lucy zurückwich. Sie huschte auf die
Gruft zu, blieb aber kurz vor der Tür stehen, als sei sie von einer unüberwindlichen Kraft gebannt: von der Hostie!
Lucy drehte sich zu ihnen um, ihre Augen loderten in dämonischer Glut, und ihr Gesicht war vor Wut und spöttischer Bosheit
verzerrt,
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