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Draußen wartet die Welt

Draußen wartet die Welt

Titel: Draußen wartet die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Grossman
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der Frau und sie streckte ihre Hand aus und berührte meine Wange. Ihre Finger fühlten sich kühl und trocken auf meiner Haut an.
    »Wer sind Sie?«, fragte ich.
    Die Frau lächelte. »Ich bin deine Tante Beth«, flüsterte sie heiser, während die Tränen über ihre Wangen rannen. »Deine Mutter war … ist meine Schwester.«
    Die nächsten Minuten nahm ich nur sehr verschwommen wahr. Sie stolperte auf mich zu und wir klammerten uns in einer zitternden Umarmung aneinander. Unsere Tränen vermischten sich, und ich schluchzte lautstark, während Beths Hand meinen Hinterkopf streichelte. Josh hatte sich leise zurückgezogen, aber auch er war ein Teil dieser Szene. Schließlich ließen Beth und ich einander los und standen voreinander.
    »Das habe ich nicht gewusst«, war alles, was ich sagen konnte. Beth bedeutete uns mit einer Geste, uns auf die Couch zu setzen. Sie selbst ließ sich auf einen Sessel nieder.
    Josh sah mich an. »Verstehst du das?«
    Ich nickte. Es gab nur eine einzige Erklärung, aber ich wollte sie nicht laut aussprechen.
    »Nur zu«, sagte Beth.
    Anfangs wollten mir die Worte einfach nicht über die Lippen kommen, aber endlich sagte ich: »Sie wurde gemieden.« Beth nickte und machte meine Worte damit zur Gewissheit.
    »Unmöglich«, stieß Josh aus.
    Ich drehte mich wieder um und sah ihn an. Ich hatte keine Ahnung, was ich darauf erwidern sollte. »Ist aber so«, sagte ich.
    Meidung. Es war das Allerschlimmste, was passieren konnte. Aber hier sah ich es direkt vor mir, im Gesicht einer Frau mit den silbernen Augen meiner Mutter.
    Diese Frau hatte einst eine Kapp getragen, in einem Quiltkreis gesessen und in einer Einraumschule gesungen. Bis irgendetwas geschehen war, was sie gezwungen hatte, fortzugehen. Für immer.
    »Du willst wohl die ganze Geschichte hören«, sagte Beth. Ich nickte. »Okay«, fuhr sie fort. »Aber sag mir zuerst, wie du hierhergekommen bist – angezogen wie ein englisches Mädchen.« Sie schaute zu Josh hinüber. »Und wer ist dieser junge Mann?« Josh sah mich erwartungsvoll an, so als wolle auch er die Antworten auf diese Fragen hören. »Na gut«, sagte Beth. »Soll ich uns Abendessen machen, während wir unsere Geheimnisse miteinander teilen?«
    In der Küche setzten Josh und ich uns an einen Holztisch, der aussah, als gehöre er in ein Bauernhaus. Während Beth die Zutaten für einen Salat in einer Holzschüssel mischte und in einem gusseisernen Topf Nudelwasser aufsetzte, behielt sie mich die ganze Zeit über im Auge.
    »Also, ich nehme an, du bist sechzehn«, begann sie, »und das ist dein Rumspringa.« Ich nickte. »Und das ist ein Junge, den du hier in der großen, weiten Welt kennengelernt hast.« Ich grinste Josh an. Er lächelte zurück und fasste in seine Tasche, um sein Handy auszuschalten. Die kleine Geste erfüllte mich mit großer Dankbarkeit. »Also, wo wohnst du? Und, was noch viel wichtiger ist, wie hast du es geschafft, dass deine Eltern dich von zu Hause ausziehen lassen?« Während Beth das Gemüse schnitt und es mit beiden Händen in einen Topf mit köchelnder Soße warf, erzählte ich ihr, dass ich schon immer davon geträumt hatte, unsere einfache Welt zu verlassen. Und ich berichtete ihr davon, wie ich Rachel bei einem unserer Fremdenabende kennengelernt hatte. Meine Stimme zitterte, als all die gemischten Gefühle wieder in mir hochstiegen – alles loslassen zu müssen, fortzugehen und nach etwas Neuem zu greifen.
    Ich blickte auf und sah, dass Beth und Josh mich eindringlich anschauten und auf den nächsten Teil der Geschichte warteten. »Josh kann dir den Rest erzählen«, sagte ich.
    »Na ja«, begann er, »ich habe bei Rachel den Rasen gemäht und wollte was trinken, und da habe ich dieses Mädchen aus einer anderen Welt kennengelernt. Und ich meine, wirklich aus einer anderen Welt.« Beth kicherte, und es klang wie das Lachen eines kleinen Mädchens, das gekitzelt wird. »Sie hatte noch nie von den Beatles gehört. Sie hatte noch nie einen Film gesehen, noch nie telefoniert. Ich weiß auch nicht, aber irgendwie war es wie bei einem Blinden, der sehen lernt. Sie wollte alles sehen.« Er machte eine Pause und sah mich an. »Und ich durfte alles gemeinsam mit ihr sehen.«
    Ich spielte mit einem Faden, der sich vom Saum meines TShirts gelöst hatte. Es war seltsam, zuzuhören, wie Josh mich beschrieb. Vielleicht hätte ich wütend sein müssen, weil er mich sozusagen als Blinde bezeichnet hatte, aber es war schön, zu hören, dass er sich so

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