Drei Eichen (German Edition)
Hilfesuchend hetzten Lagerfelds Augen durch die nähere Büroumgebung und erblickten Haderlein in Suckfülls Glasbau. Er war in ein intensives Gespräch mit ihm verwickelt, konnte ihm also auch nicht beistehen.
»Na ja«, begann er sich zu rechtfertigen, »eigentlich war Riemenschneider ja selbst dran schuld. Hätte sie sich nicht so aufgeführt, hätte ich auch nicht zu solchen Mitteln greifen müssen.« Lagerfeld beklagte sich zaghaft, aber ohne wirkliche Hoffnung auf Erfolg. Und seine Hoffnungslosigkeit war durchaus berechtigt.
»Aufgeführt hat sie sich also, soso. Sag mal, bist du noch zu retten? Das ist doch noch ein kleines Schwein, ein Kind. Weißt du eigentlich, was du bei Riemenschneider auslösen kannst, wenn du sie einfach so wegsperrst? Das arme Ding musste womöglich fürchterliche Seelenqualen erleiden, vielleicht bleiben ja traumatische Spätschäden bei ihr zurück, und alles nur, weil du nicht so viel pädagogischen Sachverstand und Einfühlungsvermögen …«
Während Honeypenny weiterhin Dampf abließ, beschloss Lagerfeld, nicht mehr zuzuhören, und warf einen Blick zur seelisch so verletzten Riemenschneiderin hinüber. Das angeblich traumatisierte Ferkel lag mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck ausgestreckt auf Honeypennys Stuhlpolster und grinste zu ihm herüber. Natürlich wusste Lagerfeld, dass Schweine nicht grinsen konnten, selbst wenn sie es versuchen würden, trotzdem war er sich so was von sicher, dass sie es gerade tat, dass er all sein Hab und Gut darauf verwettet hätte. Na warte, das kriegst du noch zurück, du kleines Miststück, dachte er, als Honeypenny endlich am Ende ihres lautstarken Vortrags angelangt war.
»… warte nur mal, wenn du selbst Kinder hast, du unsensibler Grobian!« Sie drehte sich um und eilte zu dem Ferkel zurück, um das arme Ding noch etwas zu verwöhnen. Sie konnte es nicht wissen, doch mit ihrer letzten Bemerkung hatte sie Lagerfeld in das gleiche emotionale Fahrwasser zurückgeschubst, in dem er draußen auf dem Parkplatz angekommen war.
Der schwarze BMW wurde langsamer und hielt am Straßenrand, direkt vor der großen Eiche, die ihre knorrigen Äste in den Himmel streckte. Die mächtige Dreifaltigkeitseiche bei Aschach in der Rhön war eine der ältesten Eichen Deutschlands, ein Koloss mit über siebeneinhalb Meter Stammdurchmesser. Die Krone spannte sechzehn Meter, der ganze Baum war fast achtzehn hoch.
Er liebte diese Eiche. Sein Vater hatte ihm sie und andere Bäume in früheren Zeiten gezeigt, als er noch ein kleiner Junge gewesen war. An manchen Wochenenden waren sie viele Kilometer gefahren, um Naturschauspiele wie dieses zu besuchen. An der mächtigen Eiche bei Aschach hatten sie besonders oft haltgemacht.
So wie dieser Baum solle er werden, hatte sein Vater immer gesagt. Wie eine deutsche Eiche, stolz, mächtig, unbezwingbar. Staunend und ehrfürchtig hatte er vor den großen Bäumen gestanden, während sein Vater ihm etwas über Eichen im Speziellen und das Leben im Allgemeinen erzählte. Sein strenger, unnahbarer Vater, der ansonsten nur Zucht und Ordnung kannte und diese von ihm uneingeschränkt einforderte, war ihm in diesen Momenten am nächsten gewesen. Dann hatte er eine kleine Tür zu seinem Inneren geöffnet, und der kleine Bub hatte kurz hinter die Festungsmauern in das väterliche Innenleben schauen können. Damals hatte er fast so etwas wie Liebe empfunden und im Laufe seines Lebens den Wunsch seines Vaters verinnerlicht. Wann immer ihm die Aufgaben zu schwer, die Hürden zu hoch, der Gegner unbezwingbar erschienen war, war er zu den Eichen zurückgekehrt. Alte Kraftpunkte, die ihre Energie seit Hunderten von Jahren aus der Erde sogen. Die Energie und die Unbezwingbarkeit hatte er sich in den vergangenen Jahren zu eigen gemacht. Wieder blickte er nach oben in das gewaltige Blätterdach des mächtigen Baumes und dann in die Weite der Saaleauen.
Er war gespannt, wie lange es dieses Mal dauern würde, bis die anderen den Platz finden würden. Das letzte Mal waren sie gut gewesen, sehr gut sogar, doch jetzt hatte er die Aufgabe besser verschlüsselt. Aber auch im Leben musste man ja immer besser werden. Beruflich wie privat. So hatte er es gelernt, so hatte er es gelebt. Er hatte immer angestrebt, der Beste zu werden, und in sehr vieler Hinsicht hatte er das auch geschafft. Seine Eltern hatten ihn zur Leistungsbereitschaft erzogen und auch verstanden, diese Leistungen mit entsprechendem Nachdruck einzufordern. Er musste immer der
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