Drei Wunder (German Edition)
denn?«, fragte sie.
Olivia blickte auf und merkte, wie sie wieder traurig wurde. Sie hatte das Foto wegräumen wollen, bevor Violet es sah. Sie hatte immer noch ein schlechtes Gewissen, dass sie Miles gegenüber so kurz angebunden gewesen war, und dieses Thema wollte sie Violet gegenüber eigentlich nicht ansprechen. Mit deiner toten Schwester darüber zu reden, dass du nicht über deine tote Schwester reden willst, das war ihr doch ein bisschen zu abgefahren. »Oh«, sagte Olivia leise. »Das habe ich heute gefunden.«
Violet nickte und setzte sich auf den Schreibtisch, betrachtete das Foto lange und fuhr mit den Fingern über seine glatte Oberfläche. »Wow.« Sie seufzte. »Ich kann gar nicht glauben, wie glücklich wir da alle aussehen.«
»Stimmt«, sagte Olivia. Violets Schultern fielen nach vorne, und Olivia hatte keine Ahnung, was sie sagen könnte. Wie sollte sie versuchen, sie zu trösten, wenn sie doch beide wussten, dass es stimmte. Sie waren glücklich gewesen. Sie waren eine Familie gewesen. Bis …
Das Handy auf Olivias Nachttisch gab seinen durchdringenden hohen Klingelton von sich.
»Geh ran!«, forderte Violet sie auf.
Olivia blickte auf das Display und schluckte hörbar. »Es ist Soren«, stieß sie hervor.
»Geh schon ran!«, drängte Violet.
Olivia zögerte immer noch und ließ das Telefon weiterklingeln.
»Olivia Riley Larsen, wenn du nicht sofort ans Telefon gehst …«, schimpfte Violet.
Olivia lächelte und griff nach dem Handy.
***
Olivia: Hallo?
Soren: Hallo. Hier ist Soren.
(Pause. Langer Moment, in dem nur Atemgeräusche zu hören sind.)
Soren: Ähm, Entschuldigung. Bist du das, Olivia?
Olivia: Ja, hier ist Olivia. (Versuch, forsch und selbstsicher zu klingen.)
Soren: Cool. Hey. Hier ist Soren. (Pause) Ähm, habe ich ja gerade schon gesagt, oder?
Olivia: Ja. Was gibt’s?
Soren: Nichts Besonderes. Ich habe nur eben diesen Film im Fernsehen gesehen, eine Dokumentation über Wolfsbarschfischer. Und das hat mich darauf gebracht, dich anzurufen.
Olivia: Die Wolfsbarschfischer?
Violet: Nette Schmeichelei, Kumpel!
Soren: Ja, oder vielleicht war es auch Thunfisch. Ich weiß gar nicht mehr so genau. Jedenfalls hat es mich darauf gebracht, weil es ein Dokumentarfilm ist, und am Samstag zeigen sie im Little Roxie auch einen guten Dokumentarfilm. Ich dachte, wir könnten vielleicht zusammen hingehen.
Olivia: (Herzrasen, aber LOCKERE Reaktion) Oh. Diesen Samstag? (künstliche Pause) Klar, hört sich gut an.
Soren: Ja? Cool. Also gut. Ich sagte schon cool, oder?
Olivia: Yep.
Soren: Okay. Dann ist ja alles klar. Wir sehen uns morgen in der Schule?
Olivia: Ja, wir sehen uns.
Soren: Okay. Dann leg ich jetzt auf.
Olivia: Ich auch.
Soren: Cool.
Olivia. Cool.
Soren: Ciao.
***
Olivia nahm das Telefon von ihrem Ohr und hielt es in ihrem Schoß, als sei es ein seltenes Ei, das sie schützen wolle.
Violet setzte sich wieder auf das Fensterbrett.
»Na ja«, sagte sie langsam, verschränkte die Arme und lehnte sich zurück gegen das Fensterglas. »Abgesehen von der merkwürdigen Vorstellung unseres Herzensbrechers am anderen Ende der Leitung, lief das doch gar nicht schlecht.«
Violet zwinkerte ihrer Schwester zu, und Olivia legte das Handy wieder auf ihren Nachttisch. Sie kehrte zu ihrem Schulbuch zurück und nahm den Stift, als wäre nichts Außergewöhnliches passiert. Als ob Soren sie jeden Tag anrufen und fragen würde, ob sie zusammen ins Kino gehen sollten.
Wer weiß, gestattete sie sich sogar zu denken, und ihr Blick verschwamm über dem glänzenden Foto einer Schnappschildkröte in ihrem Schulbuch. Vielleicht wäre das ja auch eines Tages der Fall.
24
Nach fast einer Woche, in der sie sich nur beiläufig im Flur mit den Ellbogen gestreift, sich im Pausenhof heimlich zugelächelt oder sich verstohlene Blicke zugeworfen hatten, während sie im Depot auf den Kaffee warteten, fragte Olivia sich langsam, ob der Samstag sich absichtlich so viel Zeit ließ, endlich zu kommen. Was hatte dieser Samstag für ein Problem? Wusste er nicht, dass er sich beeilen musste, damit sie endlich mit Soren allein sein konnte?
Doch als sie schließlich die paar Blocks von ihrem Haus zum Kino lief, wo sie sich für die Mittagsvorstellung verabredet hatten, musste Olivia ihren Füßen gut zureden, damit sie weiter in die richtige Richtung liefen. Wie konnte es schon Samstag sein? Sie hatte einfach nicht genug Zeit gehabt, sich darauf vorzubereiten.
Violet, die von der frühen Uhrzeit der
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