Drei Zeichen sind ein Wort - Band 1
Leonie
Vorgestern gab es die Zeitungsmeldung: Die letzten Beteiligten am missglückten Münchner Putsch, sofern sie bisher nicht vor Gericht gestellt wurden, sind aus der Haft entlassen worden.
Ich warte noch zwei Tage. Ich glaube fest daran, das mein Vater jetzt nach Haus kommt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er wirklich ein Verbrecher ist, dass er Schuld auf sich geladen hat – trotz seiner Pistole.
Und nun bin ich auf dem Weg zur Wohnung Harald Laskers. Inmeiner Tasche habe ich die Theaterkritik aus der »Vossischen Zeitung«. Es muss reiner Tisch gemacht werden. Ich muss mit ihm reden. Er muss alles über mich erfahren.
Heute kommt mir Neukölln noch schäbiger vor als sonst. Die abbröckelnden Fassaden der Häuser stehen im Nebel, als wären sie krank.
Ich ertappe mich dabei, dass ich immer langsamer werde, geradezu trödele, je näher ich unserer Straße komme, unserem Hinterhof.
Ich habe Angst vor der Begegnung. Was für einen Menschen werde ich da oben im dritten Stock vorfi nden? Ach, es ist wohl kaum zu hoffen, dass ihn eine Fee mit ihrem Zauberstab angerührt hat und er wieder derjenige ist, der liebevoll mit mir durch die letzten Jahre gegangen ist. Aber vielleicht war die verlorene Sache für ihn heilsam, hat ihn aus seiner Verblendung befreit ...
Als ich die Treppenstufen hinaufsteige, den Wohnungsschlüssel in der Hand, muss ich auf jedem Treppenabsatz haltmachen. Am liebsten würde ich wieder umkehren.
Vielleicht sollte ich lieber klingeln. Aber wieso denn? Ich wohne hier. Wohnte hier.
Ich schließe auf.
Im Flur ist es still. Die Wohnung ist eiskalt, niemand hat geheizt. Vielleicht ist er ja gar nicht da.
Ich betrete die Küche.
Ja, er ist zurück.
Mein Vater sitzt am Tisch, eine Wolldecke um die Schultern, und dreht mir den Rücken zu. Vor ihm, über die ganze Breite des Tisches, sehe ich seine Gewürzdöschen.
»Papa!«, sage ich leise. Er dreht sich langsam zu mir herum, starrt mich an. Sein Gesicht ist bleich, die Augen liegen tief in den Höhlen. Sein Gesichtsausdruck – ich kann ihn weder beschreiben noch deuten. Überraschung? Staunen? Freude? Beschämung? Ich weiß es nicht.
Er steht auf. »Leonie! Meine Leonie!« Einen Augenblick sieht es so aus, als ob er mich umarmen will. Aber er setzt sich wieder undfragt, ohne mich anzusehen: »Wo warst du denn nur? Ich hab mir Sorgen gemacht, als ich ... wieder hier angekommen bin.« »Gestern, ja?« Er nickt.
Ich sage vorsichtig: »Du hast gesagt, es wird alles anders, wenn du aus München zurück bist ... «
Er antwortet nicht. Ich gehe zu ihm, setze mich auf die andere Seite des Tischs.
»Papa«, sage ich so ruhig wie möglich. (Ich habe einen bitteren Geschmack im Mund.) »Ich hab die Zeitungen studiert und geguckt, ob du noch am Leben bist! Du bist heil wieder hier und das ist schon viel wert. Und nun? Wie soll es weitergehen?«
»Leonie«, erwidert er und sieht mich fest an. »Für mich hat sich nichts geändert. Für diesmal haben wir verloren. Aber der Kampf ist nicht zu Ende.«
Also, es gab keine Fee mit einem Zauberstab. Mir wird heiß. »Papa, ich hatte gehofft, dass du nach dem da vielleicht doch ... « Ich suche nach Worten. Wie schwer es einem fällt, mit jemandem zu sprechen, den man eigentlich gern hat und der so ... uneinsichtig ist.
»Leonie, was willst du eigentlich von mir?«, sagt er. »Denkst du, alles ist vorbei, nur weil es beim ersten Mal nicht geklappt hat? Du glaubst doch nicht etwa, du kannst mich umstimmen?« In meinen Ohren klingt es fast spöttisch.
»Inzwischen wohl nicht mehr«, erwidere ich. Ich fühle mich unendlich traurig.
Plötzlich weist er mit großer Geste auf die Gewürzdosen vor sich auf dem Tisch und sagt heftig: »Soll ich mich für den Rest meines Lebens damit beschäftigen, Gewürze zu sortieren? Denkst du, das könnte der Inhalt meines Daseins werden? Nein, Leonie, es gibt kei nen anderen Weg aus der Misere. Die Kameraden sagen: Wir werden weitermarschieren. Wir geben nicht auf. Für unser Volk. Für ein besseres Deutschland.«
Die letzten Worte spricht er, ohne mich anzusehen. Es hört sich an wie eine Litanei. Ihm steigt die Röte ins Gesicht.
Ich merke, dass ich ungeduldig werde. »Wenn du dich nur selbsthören könntest! Das sind alles nur hohle Phrasen! Du hast doch gesehen, was dabei herauskommt!«
»Leonie, hör auf, das Gespräch hat keinen Zweck!«, sagt er heftig. Aber ich lasse nicht locker, ich kann einfach nicht.
»Wie soll es denn aussehen, dein besseres
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