Dreikönigsmord (German Edition)
Leinentuch an den Ecken und wollte es über die verkohlte Kleidung schlagen, als sie plötzlich innehielt. Was lag da auf den Dielen? Hastig schnappte sie sich den Lesestein und hielt ihn über das winzige Ding. Durch das geschliffene Glas sah sie eine Fluse. Sie war etwas angesengt, aber dennoch war die Farbe unverkennbar. Es handelte sich eindeutig um das leuchtend blaue Garn, von dem sie auch Teilchen auf Anselms und Frowins Kleidung entdeckt hatten.
Die Blaufärbergasse war im Mittelalter keine ganz so angesagte Wohngegend wie die, in der Jo oder Annas Familie wohnten. Tatsächlich stank der Bach, der in der Mitte der Gasse verlief, durchdringend. Eindeutig ein Fall für den Umweltschutz , dachte Jo, während sie durch das Tor von Meister Rudolfs Anwesen schritt. Auf dem mit Stroh bestreuten Hof standen zwei große, im Inneren blau verfärbte Holzzuber, die wohl gereinigt werden sollten. Am Wohngebäude öffnete sich gerade die Tür. Ein Mädchen, das in der einen Hand einen Korb trug und an der anderen einen kleinen Jungen führte, kam heraus und ging auf einen Schuppen zu. Rasch folgte ihr Jo.
Der Schuppen entpuppte sich als Hühnerstall. Wild gackerndes Federvieh rannte um das Mädchen herum und balgte sich um die Körner, die es und der Kleine verstreuten.
»Kann ich Euch helfen?« Das Mädchen wandte sich zu Jo um. Eine rote Haarsträhne lugte unter seinem groben Kopftuch hervor. Es hatte ein eckiges, aber dennoch hübsches sommersprossiges Gesicht und war älter, als Jo eben aus der Ferne gedacht hatte. Seine Augen waren rot geweint.
»Ich suche Elisabeth, Meister Rudolfs Tochter.«
»Das bin ich.« Das Mädchen bestätigte Jos plötzliche Vermutung.
»Lisabeth …«, wiederholte der Junge, dessen Nase und Wangen ebenfalls von Sommersprossen gesprenkelt waren und der ihr auch sonst sehr ähnlich sah.
»Dein Bruder?«
»Ja.« Abwartend blickte das Mädchen Jo an.
»… arl«, krähte der Kleine.
»Ja, Karl ist schon gut.« Das Mädchen strich ihm über die rotblonden Haare. Jo hasste es, Zeugen zu vernehmen, wenn kleine Kinder anwesend waren. »Annas Mutter schickt mich«, griff sie zu einer Notlüge. »Sie möchte wissen, mit wem ihre Tochter sich heimlich traf und warum sie Jungenkleidung trug.« Das Federvieh schien begriffen zu haben, dass es keinen Nachschub mehr an Körnern gab, und beruhigte sich etwas.
Elisabeth schüttelte heftig den Kopf. »Es tut mir leid. Aber dazu kann ich Euch nichts sagen.«
»Ach, lüg mich nicht an. Du und Anna wart gute Freundinnen. Ganz sicher hat sie dir ihre Geheimnisse anvertraut.«
Karl nahm die Schärfe in Jos Stimme wahr und begann zu weinen.
»Ich kann Annas Mutter wirklich nicht helfen.« Elisabeth fasste ihren Bruder an der Hand und wollte aus dem Hühnerstall eilen. Doch Jo stellte sich ihr in den Weg. »Du bist es deiner Freundin schuldig, mit mir zu reden«, sagte sie bestimmt. »Ich sehe es dir doch an, dass du um sie geweint hast. Ganz sicher wünschst du dir doch auch, dass Annas Mörder aufgespürt wird.«
Elisabeths Augen füllten sich mit Tränen. Sie ließ sich auf eine Futterkiste sinken und hob den Kleinen auf ihren Schoß. »Natürlich will ich das«, sagte sie und schluchzte. »Ich will nur ihr Andenken nicht beschmutzen.« Karl klammerte sich an seiner Schwester fest und brüllte noch lauter.
Herr im Himmel … Jo unterdrückte einen Fluch. Wenn das so weiterging, musste sie schreien, um sich mit Elisabeth zu verständigen. Lutz wäre sicher etwas eingefallen, um das Kind zu beruhigen. Wahrscheinlich hätte er irgendein Spielzeug herbeigezaubert. Spielzeug … Sie griff in ihr Bündel und holte den Lesestein hervor. »Hier, sieh mal«, sagte sie so freundlich wie möglich.
Das Weinen verstummte schlagartig. »Haben!« Gebieterisch reckte sich der Junge.
Dem Kind ihr einziges Mittel, Spuren zu untersuchen, in die Patschhand zu drücken, das ging nun doch nicht!
»Nein, aber schau doch mal.« Ein Sonnenstrahl fiel durch eine Luke im Giebel. Jo fing ihn mit dem Lesestein auf und ließ ihn über die Bretterwände tanzen. Zu ihrer Erleichterung verfolgte der Junge gebannt den Weg des Lichtflecks. Sie wandte sich wieder Elisabeth zu. »Traf Anna sich heimlich mit Constantin Schreiber?«, setzte sie die Befragung fort.
Elisabeth schüttelte den Kopf. »Nein, Anna mochte Constantin zwar. Aber sie war nicht in ihn verliebt. Sie liebte Bernward, einen Töpfer. Ihre Eltern wären außer sich gewesen, wenn sie davon gewusst hätten.«
Jo
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