Dreikönigsmord (German Edition)
benötigte einige Augenblicke, ehe sie begriff: Natürlich, Töpfer hatten im Mittelalter zu den Underdogs gehört. »Und um sich mit diesem Bernward zu treffen, verkleidete sie sich?«
»Ja, Anna behauptete ihren Eltern gegenüber immer, sie würde zu mir kommen. Was auch insofern der Wahrheit entsprach, als sie sich in einem der Ställe schnell umzog. Aber dann ging sie zu Bernward. Sie wollte in dem Töpferviertel nicht erkannt werden. Und auch nicht, wenn sie sich manchmal mit ihm an abgelegene Orte in der Stadt wagte. Deshalb kleidete sie sich in die Sachen ihres Bruders.«
Jo besann sich einen Moment. »Anna war also in diesen Bernward verliebt. Was war mit Constantin? Lag ihm viel an Anna? War er wütend, weil sie seine Gefühle nicht erwiderte?«
»Soviel ich weiß, erging es ihm mit Anna so wie ihr mit ihm. Er mochte sie. Und sie wäre eine gute Partie gewesen. Aber er war nicht in sie verliebt. Nein, Constantin hat sie ganz bestimmt nicht getötet.«
»Wann hast du deine Freundin das letzte Mal lebend gesehen?«
»An dem Abend …«, Elisabeth stockte kurz, »… an dem sie umgebracht wurde. Ich schloss die Läden im oberen Stockwerk und sah sie in den Hof huschen.«
»Du hast nicht mit ihr geredet?«
»Nein, denn Karl schrie. Er musste frisch gewindelt werden.«
»Kannst du mir sagen, wann genau du Anna gesehen hast?«
»Kurz vorher hatten die Kirchturmglocken fünf Uhr geläutet.«
Immerhin einmal eine halbwegs präzise Zeitangabe … »Anna hatte vor, sich mit Bernward zu treffen?«
»Das nehme ich doch an. Warum hätte sie sonst hierherkommen und sich verkleiden sollen?« Elisabeths Lippen zitterten.
»Ich muss dringend mit diesem Bernward sprechen. Wo finde ich ihn?«
»Ihm gehört das vorletzte Haus in der Töpfergasse. Über der Tür hängt ein Schild mit einem großen gemalten Tonkrug.« Elisabeth schluchzte wieder. »Müsst Ihr denn Annas Mutter wirklich seinen Namen nennen? Ihr Vater lässt bestimmt seinen Einfluss spielen und bringt Bernward vor Gericht. Ganz sicher behauptet er, Bernward habe Anna verführt. Aber so war es nicht. Anna wollte Bernward. Sie hat um ihn geworben …«
»Mach dir keine Sorgen. Irgendwie werde ich es hinbekommen, seinen Namen gegenüber Annas Eltern zu verschweigen«, versuchte Jo, das aufgelöste Mädchen zu beruhigen. Sie bemerkte, dass die Sonne verschwunden war und der Lesestein kein Licht mehr einfing. Karl verzog weinerlich seinen Mund und quengelte.
Jo berührte Elisabeth am Arm. »Ich danke dir«, sagte sie schnell, ehe sie sich verabschiedete.
»Wer von uns beiden ist der gute, wer der böse Cop?«, fragte Jo, als sie und Lutz am Nachmittag auf Bernwards Haus zugingen. Wie Elisabeth es ihr beschrieben hatte, hing ein Schild über der Haustür: ein grüner Tonkrug vor einem leuchtend roten Hintergrund. Da Bernward gewissermaßen zu den Outsidern gehörte, hatten sie sich dafür entschieden, das Risiko einzugehen und ihn gemeinsam zu vernehmen.
»Ich schlage vor, dass ich mich opfere und freiwillig die Rolle des Bösen einnehme«, bemerkte Lutz und bedachte Jo mit einem tugendhaften Augenaufschlag. »Den Töpfer dürfte es zu sehr durcheinanderbringen, wenn er es plötzlich mit einer aggressiven Frau zu tun hat. Schließlich ist er ja noch nie einer Feministin begegnet.«
»Ha, ha«, knurrte Jo und riss die Haustür auf.
Wie immer benötigten ihre Augen eine kurze Weile, bis sie sich an das dämmrige Licht gewöhnt hatten. Ein Raum tat sich vor ihr auf, der sowohl Arbeits- als auch Wohnstube war. Im hinteren Teil befanden sich ein Bett, auf dem Felle und Decken lagen, sowie eine Feuerstelle. Die Regale im vorderen Teil waren mit Töpferwaren gefüllt. Recht dünnwandige Keramik, wie Jo zu erkennen glaubte, die vorwiegend grün und ockerfarben glasiert war.
An einer Töpferscheibe saß ein junger Mann, der vielleicht zwanzig Jahre alt sein mochte. Sein dichtes blondes Haar hatte er zu einem Zopf geflochten. Seine Hände waren von getrocknetem Ton überkrustet, und auch der Ton der Ware vor ihm auf der Scheibe – eine in sich zusammengesunkene Schüssel – wirkte hart und rissig. Er musste seit Stunden so dagehockt und vor sich hingestarrt haben. Sein Gesicht war bleich und hohläugig, als wenn er seit Tagen nicht mehr geschlafen hätte. Trotzdem war zu erkennen, dass er, mit seinen ebenmäßigen Zügen und den blauen Augen, normalerweise ein gutaussehender Bursche war. Obwohl es in der Stube eisig kalt war, trug er über seiner Hose nur
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