Dreiländermord
Ermittlungsakten im Falle des ermordeten
Lebensmittelhändlers Saggolny durchgesehen und den Todesfall Michaela F. überprüft«,
berichtete Rennickens. »Allerdings habe ich rein gar nichts gefunden, das uns heute
weiterbringen könnte, als es die Kollegen damals hätte bringen können.«
Wieder wunderte sich Böhnke. Rennickens tat so,
als hätte er nichts mit den Fällen zu schaffen gehabt, dabei hatte er statt Küpper
die Ermittlungen geleitet. Das hatte jedenfalls der Bernhardiner ihm gesagt. Und
nun tat Rennickens so, als sei er ein neutraler Beobachter gewesen. Nachdenklich
nippte er an seiner Kaffeetasse. Wem sollte er mehr glauben, dem Bernhardiner oder
dem Kripochef? Intensiv beobachtete er den souveränen Rennickens.
Böhnke fühlte sich unwohl. Etwas stimmte mit dem Kerl ihm gegenüber
nicht. Er erweckte den Eindruck, dass er jede Situation beherrsche.
Ein Handy klingelte in Rennickens’ Jackentasche. Der Polizist nahm
das silberne Gerät in die Hand, deutete ein entschuldigendes Lächeln an und nahm
das Gespräch entgegen, während er auf die Terrasse hinaustrat.
Böhnke beobachtete durch das Fenster, wie die Bewegungen von Rennickens
im Verlaufe des Telefonats immer hektischer wurden. Zornesröte stieg in sein Gesicht
und wütend schoss er wenige Augenblicke später zurück in den Wohnraum.
»So, Herr Böhnke, jetzt ist Schluss mit lustig! Sie sind ja ein ganz
ausgekochter Zeitgenosse, laden mich zu einer Plauderstunde zu sich ein und lassen
währenddessen den alten Kollegen Küpper in meinem Kommissariat herumschnüffeln.
So nicht, mein Freund. Da mache ich nicht mehr mit!« Seine Gesichtszüge verhärteten
sich, und Böhnke erkannte ihn tatsächlich wieder.
Ihm wurde nämlich mit einem Schlag sonnenklar, woher er das Gesicht
kannte: Es gehörte einem der Männer auf dem Bild des Pastors. Seine spontane Erleichterung,
Küpper aus dem Kreis der Gnadenlosen streichen zu können, war wenig ausgleichend
für die erschreckende Erkenntnis, dass Rennickens einer der Gnadenlosen war.
»Auf!«, herrschte ihn Rennickens an. »Auf zu Ihrem letzten Spaziergang!«
Er riss den perplexen Böhnke aus dem Sessel und schubste ihn durch die Wohnung.
»Los, raus hier!«
Böhnke spürte die Schwächeattacke, die langsam in ihm aufkam. Das war
zu viel für ihn.
Rennickens zerrte ihn aus dem Haus, auf die Straße,
eilte, den wehrlosen und kraftlosen Mann untergehakt, auf den Weg zum Tiefenbachtal
zu. Er nahm nicht die Straße, sondern trieb seine Geisel über den steileren Weg
zwischen den Wiesen mit sich. Böhnke hatte Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu
halten.
Wo waren bloß die Nachbarn? Warum sah keiner, was hier geschah? Böhnke
wollte rufen, winken, sich wehren. Er hoffte auf Hilfe. Aber Huppenbroich war quasi
menschenleer – wie fast immer an einem Nachmittag eines stinknormalen Arbeitstages.
»Was haben Sie vor?«, keuchte er. Die Luft wurde ihm knapp.
»Was glauben Sie denn?« Rennickens lachte hämisch
und beschleunigte seinen Gang, Böhnke mit sich ziehend. »Ich sorge dafür, dass Sie
heute sterben.« Er trieb den Pensionär ins Tal. Hinter dem Jugendzeltplatz stieß
er ihn von der Straße nach rechts in den Waldweg. Er wollte in Richtung Dedenborn.
»Ich soll sterben. So wie Geffert!« Böhnke sah plötzlich klar, hatte
in den wenigen Sekunden ihres Gewaltmarsches die richtige Sicht der Dinge gefunden.
Sie kamen an der kleinen Bank vorbei. Gerne hätte er sich gesetzt und
sich ausgeruht. Doch Rennickens zerrte ihn rücksichtslos weiter, vorbei an dem unscheinbaren
Erinnerungskreuz, das zum Gedenken an einen amerikanischen Soldaten von dessen Paten
aufgestellt worden war. Der junge Eric Williams aus River Sun war 27-jährig im Januar
1945 auf der Bergkuppe gestorben, wusste Böhnke aus der Inschrift. Ihn selbst würde
es heute erwischen, wenn ihm nicht schnell eine Lösung einfiel.
Rennickens beendete ungehalten die Verschnaufpause und zerrte den ehemaligen
Kommissar weiter. »Was soll ich Ihnen erzählen? Es würde Sie nur belasten. Von mir
erfahren Sie nichts, bevor Sie sterben.« Unvermittelt gab er Böhnke einen kräftigen
Stoß in die Seite.
Der Alte strauchelte, stolperte auf den schrägen Waldboden, kam auf
dem nassen Untergrund ins Rutschen, fiel hin und rollte bergab, bis er an einem
Baum hängen blieb. Er war müde und atemlos, spürte trotz der Schwäche eine wohlige,
langsam wachsende Wärme in sich. Das würde der Tod sein und er konnte sich nicht
dagegen wehren. Er würde
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