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Dreimal im Leben: Roman (German Edition)

Dreimal im Leben: Roman (German Edition)

Titel: Dreimal im Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arturo Pérez-Reverte
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ihn niemals vermutet hätte. Es war Emil Karapetian, der ihm auf seine Frage, ob er wisse, wo Jorge Keller sei, schließlich den Weg wies. Den Armenier traf Max auf der Terrasse an, wo er mit Irina beim Frühstück saß, und die Unbefangenheit, mit der das Mädchen ihn freundlich lächelnd begrüßte, legte die Schlussfolgerung nahe, dass sie nichts von ihrer Enttarnung ahnte.
    »Billard?«, fragte Max verwundert. In das Bild, das er von einem Schachmeister hatte, wollte dieses Spiel nicht recht passen.
    »Das gehört zu seinem Training«, erläuterte Karapetian. »Manchmal läuft er, manchmal geht er Schwimmen, und manchmal schließt er sich im Billardsaal ein und spielt Karambol.«
    »Darauf wäre ich nie gekommen.«
    »Wir auch nicht.« Der Armenier hob seine mächtigen Schultern in einem Anflug von guter Laune. Max fiel auf,dass er es vermied, Irina zu lange anzusehen. »Aber so ist Jorge.«
    »Spielt er allein?«
    »Fast immer.«
    Der Billardsaal liegt im Obergeschoss hinter dem Lesezimmer: ein Spiegel, der das Licht eines großen Fensters zur Terrasse vervielfacht, eine Tafel mit Ständer für die Queues und ein französischer Billardtisch unter einer schmalen querformatigen Messinglampe. Jorge Keller beugt sich über den Tisch und stößt eine Karambolage nach der anderen, die Kugeln treffen mit monotoner Präzision aufeinander. Max bleibt in der Tür stehen und beobachtet ihn: Hochkonzentriert führt er Stoß um Stoß aus, jeder Dreifachtreffer der Elfenbeinkugel scheint zwingend die Vorlage für den nächsten darzustellen, sodass sich die Serie bis in alle Ewigkeit fortsetzen ließe.
    Max mustert den jungen Mann eingehend, und er achtet jetzt auf Details, denen er bislang womöglich zu wenig Beachtung geschenkt hatte. Zuerst durchforstet er sein Gedächtnis nach Zügen und Eigenschaften des chilenischen Diplomaten, dem er im Herbst 1937 bei der Abendgesellschaft in Susana Ferriols Haus begegnet war – er erinnert sich nur noch vage, dass er blond, vornehm und umgänglich war –, und vergleicht sie mit denen des Mannes hier vor ihm, der offiziell Ernesto Kellers Sohn ist. Dann versucht er diese Erinnerung mit Mecha Inzunzas Aussehen vor neunundzwanzig Jahren abzugleichen und das genetische Erbe in dem Sohn auszumachen, der jetzt unbeweglich vor dem Tisch steht, die Position der Kugeln studiert und dabei die Spitze des Queues einkreidet. Schlank, hochgewachsen, mit aufrechter Haltung. Wie seine Mutter, klar. Aber auch ihm selbst damals nicht unähnlich. Körpergröße und Gestalt würden passen. Und Tatsache ist, denkt er mit einem plötzlich flauen Gefühl im Magen, dass dieses dichte schwarzeHaar, das dem jungen Mann in die Stirn fällt, wenn er sich über die Tischkante neigt, weder demjenigen Mecha Inzunzas gleicht – das Max seit der Cap Polonio dunkelblond in Erinnerung hat – noch dem des Mannes, dessen Familiennamen Jorge trägt. Würde der Schachspieler sich das Haar nach hinten pomadisieren, wie Max das tat, als seines noch voll und schwarz war, wäre es genau wie das, das er selbst in Jorges Alter an den Schläfen glattgestrichen hatte, bevor er langsam zu den ersten Orchesterklängen durch den Saal geschritten war, um mit leichtem Hackenschlag und lächelnd eine Frau zum Tanz aufzufordern.
    Unmöglich, denkt er nervös und versucht, die Vermutung gleich wieder zu verdrängen. Er selbst kann doch nicht einmal Schach spielen. Er verspürt einen diffusen Zorn auf sich selbst, weil er immer noch ratlos im Türrahmen steht und im Gesicht des anderen nach seinen eigenen Zügen forscht. So etwas gibt es nur im Kino, im Theater, in den Fortsetzungsromanen im Radio. Wenn es wahr wäre, hätte er doch etwas merken oder spüren müssen, als er den jungen Mann zum ersten Mal sah oder mit ihm sprach. Irgendetwas in ihm hätte sich doch regen müssen, ein Aufhorchen, ein kleines Zittern. Das Gefühl einer Affinität zumindest. Oder schlicht eine Erinnerung. Es ist schwer zu glauben, dass die natürlichen Instinkte vor einem Ereignis dieser Größenordnung schlicht versagen sollten. Vor einer vermeintlich unverkennbaren Tatsache. Ist in den alten Melodramen von Waisenmädchen und Millionären nicht oft von der Stimme des Blutes die Rede? Max dagegen hat nie eine solche Stimme vernommen. Nicht einmal jetzt vernimmt er sie; alles, was er hat, ist die erschütternde Gewissheit eines unerklärlichen Irrtums, ein tiefes Unbehagen, eine Aufgewühltheit, wie er sie noch nie zuvor empfunden hat. Das alles kann gar

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