Dreimal im Leben: Roman (German Edition)
Tisch zu stellen, kommt es zu einem kurzen Augenkontakt. Er dauert kaum eine Sekunde. Sie sagt gerade etwas zu ihren Begleitern und lässt dabei den Blick schweifen, der für einen kurzen Moment dem seinen begegnet. Die Augen der Frau halten nicht inne, sondern wandern weiter, während sie ihr Gespräch fortsetzt. Jemand sagt etwas, sie hört aufmerksam zu, und dann wendet sie den Blick nicht mehr von ihren Tischgenossen. Max, der einen feinen Stich verletzter Eitelkeit verspürt, lächelt wehmütig in sich hinein und sucht Trost in einem weiteren Schluck Falerno. Logisch, dass er sich verändert hat, denkt er, aber sie doch auch. Und zwar sehr, seit sie sich vor neunundzwanzig Jahren, im Herbst 1937, in Nizza zum letzten Mal gesehen haben. Und mehr noch seit den Ereignissen in Buenos Aires, weitere neun Jahre zuvor. Auch das Gespräch, das er und Mecha Inzunza zwischen den Rettungsbooten auf dem Deck der Cap Polonio geführt hatten, vier Tage nachdem er von ihr und ihrem Mann zum Essen in die Luxussuite eingeladen war, um über Tango zu sprechen, liegt sehr lange zurück.
Auch an jenem Tag hielt er Ausschau nach ihr, nachdem er die ganze Nacht wachgelegen, das sanfte Wiegen des Schiffes gespürt und dem Stampfen der Maschinen im Inneren des Hochseedampfers gelauscht hatte. Es gab Fragen zu klären und Pläne zu schmieden. Gewinne und Verluste abzuschätzen. Doch darüber hinaus trieb ihn ein unerklärlicher persönlicher Impuls, der, auch wenn er es sich nicht eingestehen wollte, nichts mit den materiellen Begebenheiten zu tun hatte. Etwas Seltsames, Unkalkulierbares, weil es aus Gefühlen, Verlockungen und Zweifeln bestand.
Er fand sie auf dem Deck mit den Rettungsbooten wie das vorige Mal. Das Schiff glitt zügig dahin, eingehüllt ineinen feinen Dunst, den die aufgehende Sonne – eine verschwommene goldene Scheibe, die immer höher über den Horizont stieg – nach und nach aufsog. Sie saß auf einer Teakholzbank unter einem der großen rot-weiß gestrichenen Schornsteine. Ihre Kleidung war sportlich, Faltenrock, gestreifter Wollpullover und flache Schuhe. Ihr Gesicht, beschattet von der schmalen Krempe eines glockenförmigen Hutes aus Tagalstroh, war über ein Buch geneigt. Diesmal ging Max nicht mit einem knappen Gruß vorüber, sondern begrüßte sie, blieb vor ihr stehen und nahm die Reisekappe ab. Das Meer war still, er hatte die Sonne im Rücken und sein Schatten schwankte leicht über ihr Buch und ihr Gesicht, als sie den Blick hob.
»Sieh mal an«, sagte sie, »der Meistertänzer.«
Sie lächelte, doch ihre Augen, die ihn prüfend musterten, blieben vollkommen ernst.
»Wie geht es Ihnen, Max? Wie viele junge Gören und alte Jungfern haben Ihnen in den letzten Tagen auf die Füße getreten?«
»Zu viele«, stöhnte er. »Erinnern Sie mich bloß nicht daran.«
Mecha Inzunza und ihr Mann waren vier Tage lang nicht im Tanzsaal erschienen. Seit dem Essen in ihrer Kabine hatte er sie nicht mehr gesehen.
»Ich habe nachgedacht über das, was Ihr Mann wissen wollte ... Wo man in Buenos Aires Tango erleben kann.«
Ihr Lächeln wurde breiter. Ihr Mund ist schön, dachte Max. Alles an ihr ist schön.
»Tango auf die alte Art?«
» De la Guardia Vieja . Ja.«
»Großartig.« Sie klappte das Buch zu und rückte mit aller Selbstverständlichkeit ein wenig zur Seite, um ihm Platz zu machen. »Können Sie uns das zeigen?«
Obwohl dieser Plural für Max nicht unerwartet kam, lösteer Unbehagen in ihm aus. Er stand noch immer vor ihr, die Mütze in der Hand.
»Ihnen beiden?«
»Ja.«
Der Eintänzer nickte. Dann setzte er die Mütze auf – etwas schräg, kokett über das rechte Auge gezogen – und ließ sich neben ihr nieder. Der Platz war windgeschützt, im Schatten einer weißlackierten Eisenkonstruktion und abgeschirmt durch eines der großen Belüftungsrohre, die sich um das Deck zogen. Aus dem Augenwinkel schielte Max auf das Buch in ihrem Schoß. Der Titel war englisch: The Painted Veil . Er hatte von diesem Somerset Maugham, dessen Name auf dem Umschlag stand, nichts gelesen, obwohl er ihm bekannt vorkam. Bücher waren nicht seine Stärke.
»Dagegen ist nichts einzuwenden«, sagte er, »sofern Sie bereit sind, sich auf gewisse Unwägbarkeiten einzulassen.«
»Sie machen mir Angst.«
Diesen Eindruck vermittelte sie jedoch ganz und gar nicht. Er schaute an den Rettungsbooten vorbei ins Leere und spürte, dass sie ihn unverwandt ansah. Einen Moment lang zweifelte er, ob er sich wegen irgendeiner
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