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Dreimal im Leben: Roman (German Edition)

Dreimal im Leben: Roman (German Edition)

Titel: Dreimal im Leben: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Arturo Pérez-Reverte
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formuliert habe.
    »Er hatte Verwandte, die in Paris im Exil lebten und sich ihren Lebensunterhalt als Hotelportiers und Taxifahrer verdienten. Anderen war es gelungen, ihr Vermögen zu retten, so auch einem Vetter, der mehrere Kabaretts betrieb, in denen Tango getanzt wurde. Eines Tages besuchte ich diesen Vetter, bekam eine Anstellung, und von da an ging es aufwärts. Ich konnte mir ordentliche Garderobe zulegen, auskömmlich leben und ein wenig reisen.«
    »Und was ist mit deinem russischen Freund passiert? Wie ist er gestorben?«
    Die Erinnerungen, die Max dazu kamen, waren nicht düster. Jedenfalls nicht auf die gängige Weise. Er verzog den Mund zu einem wehmütigen Schmunzeln, als er sich vergegenwärtigte, wie er den Obergefreiten Dolgoruki-Bragation zum letzten Mal gesehen hatte: im besten Zimmer des Freudenhauses Tauima, wo er sich mit drei Huren und einer Flasche Cognac eingeschlossen hatte, um sich, nachdem er die Frauen durchhatte und die Flasche leer war, ins letzte Abenteuer seines Lebens zu stürzen.
    »Er hatte keine Lust mehr. Er erschoss sich, weil er zu nichts mehr Lust hatte.«
    Max sitzt auf der kleinen Terrasse der Bar Ercolano unter den Palmen der Piazza und dem Uhrenturm, die Lesebrille auf der Nase, in die Zeitung vertieft. Es ist später Vormittag, die Stunde des stärksten Verkehrs in der Altstadt, und manchmal schreckt ihn das Knattern eines Auspuffs auf, sodass er zusammenzuckt und sich umschaut. Man käme heute nicht darauf, dass die Urlaubssaison längst vorüber ist. Die Terrasse des Fauno auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist voll besetzt, die Mündung der Via San Cesareo mit ihren Fisch-, Obst- und Gemüseständen ist sehr belebt, und Fiats, Vespas und Lambrettas fahren in tosenden Schwärmen den Corso Italia entlang. Nur die Pferdekutschen stehen unbeweglich in Erwartung von Touristen, während die gelangweilten Fuhrleute in Grüppchen zusammenstehen, plaudern, rauchen und die Frauen anstarren, die unter der Marmorstatue des Dichters Torquato Tasso entlanggehen.
    Il Mattino bringt einen ausführlichen Bericht über das Duell Keller–Sokolow, es sind bereits einige Partien gespielt. Die letzte endete Remis, und anscheinend war der Russe lange im Vorteil. Wie Lambertucci und der Capitano Max erklärt haben, gibt es für jede gewonnene Partie einen Punkt, und einen halben für jeden, wenn das Spiel unentschieden endet. Derzeit hatte Sokolow zweieinhalb Punkte und Keller eineinhalb. Eine Situation, die noch alles offenlässt, darin sind sich die Fachjournalisten einig. Max ist schon seit einer ganzen Weile in den Artikel vertieft, wobei er die technischen Erläuterungen überspringt, die sich hinter absonderlichen Bezeichnungen wie Spanische Eröffnung, Petrosjan-Variante und Nimzowitsch-Indische Verteidigung verbergen. Ihn interessieren eher die näheren Begleitumstände des Wettbewerbs. Il Mattino und die anderen Zeitungen streichen die Spannungen heraus, die weniger mit der Siegprämie von fünfzigtausend Dollar als vielmehr mit den politischen und diplomatischen Verwicklungen zu tun haben. Max liest, dass die Sowjets bereits seit zwei Jahrzehnten die besten Schachspieler stellen und der Weltmeistertitel von einem sowjetischen Großmeister an den nächsten weitergereicht wird.Schach gelte in der Sowjetunion seit der bolschewistischen Revolution als Nationalsport – fünfzig Millionen Anhänger bei etwas mehr als zweihundert Millionen Einwohnern – und werde nach außen als Propagandamittel benutzt, was so weit gehe, dass jedes Schachturnier umfassende staatliche Unterstützung genieße. Das bedeute, wie es in einem der Kommentare heißt, dass Moskau beim Campanella-Preis alle Geschütze auffahre. Zumal ausgerechnet Jorge Keller Sokolow in fünf Monaten den Titel streitig machen wolle – lässige kapitalistische Ketzerei gegen strenge sowjetische Orthodoxie –, was nach dem spannenden Prolog von Sorrent das Schachereignis des Jahrhunderts zu werden verspreche.
    Max nimmt einen Schluck Negroni, blättert weiter und überfliegt die übrigen Schlagzeilen: Die Beatles wollen sich trennen, Johnny Hallyday hat einen Selbstmordversuch unternommen, der Minirock und lange Haare revolutionieren England ... Im politischen Teil ist von anderen Revolutionen die Rede: die Roten Garden erschüttern noch immer Peking, die Schwarzen fordern ihre Bürgerrechte in den Vereinigten Staaten ein, und eine Gruppe von Rebellen wurde verhaftet, als sie eine Intervention in Katanga plante. Auf der

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