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Drop City

Drop City

Titel: Drop City Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T.C. Boyle
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Knien und der langen Linie ihrer Oberschenkel, als sie sich setzte. Er legte den Arm um sie, drückte sie an sich, und als er das tat – in genau diesem Moment –, raschelte über ihnen etwas, und ein heftig flatternder großer Vogel, vielleicht eine Kaisergans oder ein Adler, flog tief durch die Bäume und schoß so rasch davon, daß keiner ganz sicher war, ihn überhaupt gesehen zu haben, und vielleicht hatte ihn ja auch niemand gesehen, denn fast alle hielten die Augen geschlossen. Marco rief leise: »Hast du das gesehen?«
    Star wandte sich zu ihm wie für einen Kuß, ihr Haar lag weich an seinem Gesicht. »Ja!« sagte sie. »Ja! Ist das nicht irre? Was war das – ein Falke?«
    »Keine Ahnung, aber ist doch ein gutes Omen, meinst du nicht?«
    Tom Krishna stimmte wieder einen Gesang an. Alle nahmen sich bei den Händen, und Star beugte sich kurz von Marco weg, um die Hand ihres linken Sitznachbarn zu ergreifen – es war der irre George, der sich Hühnerknochen ins Haar geknotet hatte und einen Bund Knoblauchknollen um den Hals trug, um Vampire abzuwehren –, dann wandte sie sich ihm wieder zu und schlang ihre Finger in seine. »Ich bin so glücklich«, sagte sie. »Ich wußte gar nicht, daß ich so glücklich sein kann, das hätte ich nie geglaubt. Bist du nicht auch glücklich? Könntest du nicht einfach sterben für das hier?«
    Er sagte ihr, ja, das sei er. Und ja, das könnte er.
    In Fairbanks parkte Norm den Bus vor einem Imbißlokal, und sie kletterten allesamt hinaus, die ganze Familie, auch die Hunde, nur die Ziegen blieben meckernd in ihrem Verschlag, und Che und Sunshine flitzten den Gehsteig rauf und runter wie Marschflugkörper. Keiner der Menschen hier hatte je so etwas gesehen. Autos blieben mitten auf der Fahrbahn stehen. Alles kam neugierig aus Geschäften, Friseurläden, dem Rathaus heraus. Und die Drop-City-Sippe, aufs allerfeinste herausgeputzt, ging in Schichten in das Lokal und vertilgte mit der Zeit dessen Bestände an Milkshakes, Eiscreme, überbackenem Käse, Hamburgern, Thunfischsalat, grünem Salat, Zitronenbaisers und Tagessuppe, und all das zu Preisen, die das Dreifache dessen betrugen, was sie in Kalifornien dafür bezahlt hätten, weil hier jeder Bissen aus den südlichen achtundvierzig Staaten herauftransportiert werden mußte. Marco zählte sein Geld ab und übernahm auch Stars Rechnung, aber zugleich versank er tief in seiner Jeansjacke – Lachse hatte er hier noch nicht gesehen. Oder ein Karibu. Oder einen Bären. Nicht mal ein Kaninchen.
    »Mach dir keine Sorgen ums Geld«, sagte Star und strich sich die Stränge ihrer Haare hinter die Ohren. Sie hatte sie seit einer Woche nicht mehr gewaschen. Niemand hatte sich gewaschen, abgesehen von einer flüchtigen Handvoll Wasser am Hahn in Fernfahrerkneipen und Tankstellen, denn Norm hatte sich geweigert, für ein gemeinsames Bad anzuhalten, obwohl sie an unzähligen glitzernden Bächen und Flüssen und glasklaren Seen vorbeigekommen waren, die so rein waren, daß sie gar nicht wie Seen aussahen, sondern wie eine Art Zwischenschicht der Luft. Immer in Fahrt bleiben, vierundzwanzig Stunden am Tag, so lautete Norms Motto.
    »Ich mach mir keine Sorgen«, sagte Marco, aber er tat es doch.
    Star beugte sich über den Tisch zu ihm und ergriff seine Handgelenke. »Das hier oben sind die USA, da kriegen wir Essensmarken, Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, genau wie sonst überall.« Von der Straße, wo die Sonne ihnen die Stirn beschien, das Haar aufdröselte und die Kanten ihrer Wangenknochen und Nasen in weichen Reliefs betonte, glotzten drei wuchtige Frauen mittleren Alters in geblümten Hauskleidern durch die Fenster des Imbißlokals, als wären sie im Zoo. In besserer Laune hätte Marco ihnen vielleicht zugewinkt, oder er hätte die Zunge in die Backe geschoben und sich unter den Achseln gekratzt, arp-arp-arp . So aber ließ er nur den Blick sinken. »Und außerdem«, sagte sie etwas leiser, »hab ich mir ein paar Dollar zurückgelegt. Für Notfälle. Und du bist ohne Frage ein Notfall, das ist dir doch klar?«
    Dazu wußte er nichts zu sagen, außerdem war er mißmutig, ungeduldig und ziemlich genervt von dem ganzen Zirkus. Wo waren die Bäume, die es zu fällen, zu entrinden und zu kerben galt, wo war der Fluß, wo waren die Postkartenausblicke, die Fische, die Hirsche? Wo blieb die Natur mit all ihren Zähnen und Klauen, die nur darauf brannte, bearbeitet und unterworfen – und ja: genossen zu werden? Was war mit dem ganzen Spaß?

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