Dryadenliebe (Die Saga vom Waldvolk) (German Edition)
löschte das Licht. Anouk hatte sicher Recht; besser, sie schlief
jetzt, denn das würde Morgen ein aufregender Tag werden.
*
Das Lager der Sicca war ganz anders, als Julie es sich vorgestellt
hatte.
Eine Art Reihenhaus, wie man sie manchmal auf der ersten Ebene
sah, war durch Mauervorsprünge in kleine Abschnitte unterteilt.
Das Gelb der Wände wirkte nicht fröhlich, sondern schmutzig
und der verwahrloste Streifen Grün unter der endlosen,
wäschebehangenen Leine zwischen den beiden Häuserreihen war
an vielen Stellen kahl und abgetreten. Jeder Abschnitt besaß
genau ein Türloch und ein Fenster. Fehlten nur noch die Gitter,
dachte Julie fröstelnd. Die Siedlung der Sicca erinnerte sie an
einen Tag in der alten Schule, den sie im KZ Buchenwald
verbringen mussten: an Trostlosigkeit kaum zu überbieten.
"Warum wohnen die Menschen hier so dicht?" fragte Julie.
Chris antwortete ihr, obwohl er den ganzen Ritt über keinen Ton
von sich gegeben hatte.
„Nur das umzäunte Gebiet liegt in der Zone, die durch eine
Verwerfung Kontakt zu der vierten Ebene hat. Woanders als an
dieser Stelle kann Mathys nicht zurückkehren.“
Schon wieder die vierte Ebene.
"Was genau ist die vierte Ebene?" fragte Julie.
"Frag´ jemand anderen, ich hab´ keine Lust mit dir zu reden"
antwortete Chris.
Himmel, der war noch immer ganz schön sauer. Julie ging weiter,
sorgsam darauf bedacht, nicht über irgendwelchen
herumliegenden Müll zu stolpern. Dieser Ort war wirklich
gruselig. Chris hatte mehr als deutlich gemacht, dass er nicht
reden wollte, aber eine Sache musste sie ihn noch fragen, wenn sie
nicht völlig durchdrehen sollte.
"Warum ist es hier so totenstill?“ flüsterte Julie.
Zu ihrer Überraschung antwortete Chris, als sei nichts gewesen.
"Weil keiner hier ist. Alle warten im Versammlungsraum auf
uns."
"Oh."
Oh?! War sie heute geistreich. Andererseits war das auch kein
Wunder bei der Eiseskälte, die zwischen ihr und Chris knirschte.
Sie wollte schon den ganzen Morgen mit ihm reden, um reinen
Tisch zu machen, aber irgendwie fühlte sich kein einziger
Moment wie der Richtige dazu an. Eine Doppeltür durchbrach
die Eintönigkeit der gelben Zellen.
Ihr Seufzer ging im Knarren der Tür unter.
War Julie gerade noch gewiss gewesen, dass das Äußere der
Behausungen an Trostlosigkeit nicht zu überbieten war, wurde sie
im Inneren eines Besseren belehrt. Ein Tisch, eine Bankreihe, rohe
Pressspanplatten an den Wänden. Vor dem Tisch zwei freie
Stühle mit Armlehnen. Etwa ein Dutzend ausgemergelter
Gestalten quetschte sich auf die Bänke.
Chris setzte sich ohne Aufforderung auf einen der Stühle und
bedeutete Julie, es ihm gleich zu tun.
"Danke, dass ihr gekommen seid."
Die Sicca antworteten nicht, aber einige nickten. Julie bekam eine
Gänsehaut. Diese Leute hier waren die Auswahl an Eltern, um
Mathys einen neuen Anfang zu ermöglichen? Sie betrachtete die
abgehärmten Gesichter der Frauen näher. Harte Züge, Trauer. Bei
einer der Sicca war sie sich nicht einmal sicher, ob die ganz bei
Verstand war; die Frau rollte mit den Augen und nestelte an
ihrem Ärmelsaum. Julie schüttelte sich. Eine von denen sollte
Mathys Mutter sein? Was für eine Farce. Sie kannte Mathys
Mutter, Frau Sander trug eine Schürze und war weich und mollig.
Sie duftete nach Plätzchen und hatte für jeden ein gutes Wort. Das
hier konnte nicht funktionieren, keine von denen konnte Mathys
zu dem machen, was er gewesen war.
Sie erhob sich, schob den Stuhl zurück. Chris packte sie am Arm
und zerrte sie zurück auf den Stuhl.
"Setz dich", zischte er.
Dann wandte er sich lauter an die Sicca.
"Wie ihr sicher gehört habt, ist ein Bundpartner gestorben. Die
Regeln sind allen bekannt. Die Frauen im umzäunten Areal haben
die Möglichkeit schwanger zu werden, wenn sie- ihr wisst schon."
Er stockte kurz, fing sich aber schnell wieder. "Wird eine von euch
schwanger, verlässt sie die Siedlung. Dem Kind werden ab dem
sechsten Lebensjahr die passenden Kräuter verabreicht. Jeder
Versuch zu fliehen wird bestraft. Jeder Versuch der Manipulation
wird ebenfalls bestraft. Erinnert sich der Junge nicht, gehört er der
Familie, die ihn ausgetragen hat. Noch Fragen?"
Ein freundlich aussehender Mann ganz vorn mit grauen Schläfen
meldete sich. Chris nickte ihm zu.
"Ja. Wann ist es soweit?"
"Gute Frage. Du bist neu hier, nicht wahr?"
"Wir sind seit zwei Monden hier, meine Lissa und ich."
Chris lächelte.
"Da kannst du vieles noch nicht wissen. Am ersten
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