Du bist das Boese
nur das beständige Rauschen des Regens und vereinzeltes Raketenböllern zu hören. Sie lag fast im Auto, damit niemand sie sah. Ihr Schüttelfrost wurde schlimmer, und sie war kurz davor, die Heizung einzuschalten, blieb aber standhaft und knöpfte sich nur die Jacke zu. Sie versuchte, durch die Nase zu atmen. Immer wieder musste sie mit dem Ärmel die beschlagene Windschutzscheibe freiwischen. Wenn ein Blitz aufleuchtete, konnte sie einen Blick auf das andere Auto werfen. Rot glimmende Punkte verrieten, dass Tatò und Colajacono im Auto saßen und rauchten. Während Piccolo zu Eis gefror, vergingen Stunden. Zehn Uhr, elf Uhr.
Sie warten. Auf wen? Auf was? Muss ich Balistreri informieren, dass ich gerade ohne jeden Grund zwei Polizisten beschatte? Nach der Sache, die ich mir gestern geleistet habe? Erst mal sehen, was passiert.
Sie wollte Rudi anrufen, bekam aber keinen Empfang. Einer der rot glimmenden Punkte stieg aus, und ein Blitz erleuchtete die groteske Gestalt Colajaconos, der mit der Zigarette im Mund im Regen stand und pinkelte.
Die Kopfschmerzen wurden schlimmer, Piccolos Rachen brannte. Sie brauchte ein Bett, Wärme, Ruhe, Rudis Linsen. In der Ferne sah sie den Scheinwerfer eines Motorrads näherkommen.
Wer nimmt denn bei diesem Wetter das Motorrad, eine halbe Stunde vor Neujahr?
Ungefähr einen halben Kilometer vor ihnen bog der Scheinwerfer ab. Ein weiterer Blitz erleuchtete die Szene. Das war kein Motorrad. Was da den Hügel heraufkroch, war die Giulia mit dem kaputten Scheinwerfer. Und Tatòs Auto fuhr los und folgte ihr mit einigem Abstand.
Eine halbe Stunde vor dem Ende des Jahres 2005 herrschte völlige Überfüllung in Angelo Dioguardis Bude, ungefähr dreißig Leute auf siebzig Quadratmetern. Ein kalter Nordwind war aufgekommen, und sie standen, im Schutz einer Glasscheibe, allein auf dem Balkon.
»Graziano hat noch einmal angerufen. Seine Lust auf Poker war doch größer. Er kommt um zwei mit einem Freund hierher, dann sind wir zu viert.«
»Schade. Wenn er es heute nicht packt, verliert Natalya das Interesse«, murmelte Balistreri traurig.
»Graziano braucht eben Zeit.«
»Das ist dein schlechter Einfluss, Angelo. Das mit der Traumfrau ist doch eine pubertäre Illusion.«
Solche Bemerkungen machte Balistreri oft, aber diesmal wurde Angelo ganz ernst.
»Ich habe mir wenigstens eine Illusion bewahrt, Michele. Dir bleibt nicht mal mehr das.«
Balistreri sah ihn verdattert an. Es passte gar nicht zu Angelo, dass er ihn kritisierte. Und tatsächlich konnte er in Dioguardis Augen keinen Vorwurf erkennen. Nur Mitleid mit seinem Freund, der schon zu Lebzeiten gestorben war.
Manche Entscheidungen trifft man spontan, aber sie sind schon ein Leben lang da. Piccolo war zwölf, als sie sich am Strand von Palermo in die Wellen warf, um ein Kleinkind zu retten. Sie war fünfzehn, als sie den coolsten Typen ihres Gymnasiums mit einem Karategriff zu Boden streckte, weil er sie unaufgefordert betatscht hatte. Sie war siebzehn, als sie zum ersten Mal mit einem Mädchen ins Bett ging. Und jetzt hatte sie einen Schwulen bei sich einquartiert und war drauf und dran, sich trotz Fieberglut mit korrupten Polizisten und potenziellen Mördern anzulegen.
Sie zog die Pistole aus dem Holster und legte sie neben sich auf den Beifahrersitz. Dann ließ sie den Motor an und folgte dem Auto von Tatò, das sie nur gelegentlich, wenn es abstoppte, an den Bremsleuchten erkennen konnte. Auf diese Distanz würden die beiden sie nicht entdecken, wenn sie das Licht ausließ. Sie durfte sie jetzt nicht verlieren.
Tatò bog an derselben Stelle ab wie die Giulia. Ein holpriger Weg voller Schlamm und Matsch, der sich den finsteren Hügel emporwand. Piccolos Wagen geriet ins Schlittern, aber zum Glück hatte es Vorderradantrieb.
Piccolo keuchte in ihrer fiebrigen Anspannung. Ab und zu wanderte ihre Hand zum Beifahrersitz hinüber, um das Metall der Pistole zu spüren. Sie ließen ein paar Kurven hinter sich, dann eine Gabelung. Piccolo musste weit zurückbleiben, um sich auf der holprigen Piste nicht durch die Fahrgeräusche zu verraten. Den Blick hielt sie starr auf die aufblinkenden Bremslichter geheftet, da es kein anderes Licht gab. Plötzlich blieb das Auto mit Tatò und Colajacono stehen. Piccolo hielt ebenfalls und schaltete den Motor aus. Die Bremslichter, denen sie gefolgt war, erloschen endgültig. Es herrschte absolute Finsternis. Nur das nächtliche Pfeifen des Windes und die Silvesterkracher in der Ferne waren
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