Du bist zu schnell
läßt.
Das Telefon fallt mir aus der Hand, ich renne zum Badezimmer und stoße die Tür auf. Val steht unter der Dusche. Ich kann durch den Plastikvorhang ihren nackten Körper erkennen. Sie ist allein.
- Bist du allein? frage ich.
Keine Antwort. Val steht nur da und rührt sich nicht. Durch den Vorhang sind ihre Konturen verzerrt. Ich greife mir eine Massagebürste mit langem Holzstiel. Ich weiß, daß ich lächerlich aussehe, aber ich habe wirklich Angst, daß noch jemand hinter diesem Vorhang hockt und mit seinem Skalpell darauf wartet, mir die Kehle durchzuschneiden.
-Val?
Nichts. Ich reiße den Vorhang mit einem Ruck auf. Val sieht mich starr an. Sie hält die Arme nach oben, als würde sie jemand mit einer Waffe bedrohen.
— Alles okay?
Ihre Mund zittert. Ich kann jeden Schnitt deutlich sehen. Auf ihren Brüsten, den Armen, auf ihrem Bauch. Und dann entdecke ich, was Marek übersehen haben muß, als er ihre Wunden verband. Vielleicht war es zu dem Zeitpunkt noch blutverschmiert und unkenntlich. Jetzt ist es ausgewaschen und tritt klar und deutlich hervor.
Auf die Innenseite von Vals rechten Arm ist vom Handgelenk bis zur Achselhöhle in groben Buchstaben eingeritzt: Weil es uns immer gab. Und auf dem linken Arm von der Achselhöhle bis zum Handgelenk: Weil es uns immer geben wird.
- Mach das weg, sagt Val leise.
Ich lege die Bürste zur Seite und weiß nicht, was ich tun soll.
- Bitte, mach das weg, wiederholt sie, ohne die Arme zu senken.
Ich greife mir ihre Handgelenke und muß gegen ihren Widerstand ankämpfen, drücke aber die Arme Zentimeter um Zentimeter herunter. Ein Wimmern dringt aus Vals Mund.
- Setz dich, sage ich und bringe sie dazu, sich in der Duschkabine auf den Boden zu setzen. Sie zittert, drückt die Arme fest an ihre Seite. Mir kommt kein Wort über die Lippen. Ich sollte sie trösten, ich sollte irgend etwas Beruhigendes sagen, aber da ist nichts.
Im Arzneischrank finde ich Wundpuder. Sollten einige der Schnitte anfangen zu eitern, ist es besser als flüssiges Antiseptikum. Ich trage es auf und hoffe, daß sich keine der Wunden infiziert hat.
-Wie schlimm ist es? fragt Val.
Ich erzähle ihr, daß die Schrift auf ihren Unterarmen nur aus oberflächlichen Schnitten besteht, die mit der Zeit verblassen werden. Ich habe keine Ahnung von Narben und bei welcher Art von Wunden sie Zurückbleiben.
Val läßt mich auch die Schnitte auf ihren Brüsten und dem Bauch neu desinfizieren. Dabei erzählt sie mir, wie sie als
Kind einen Jungen gekannt hatte, den alle nur Spasti nannten. Spasti tat alles, damit ihn die anderen Kinder mochten. Er ließ sich in voller Fahrt vom Fahrrad fallen, er nahm jede Herausforderung an und lernte nie, sich vor Schmerzen zu schützen.
— Ich habe mal einen Stock aufs Eis rausgeworfen und gesagt, er soll ihn holen. Spasti hat keine Sekunde gezögert. Er lief raus und brach nahe am Ufer durch die Eisdecke. Wir haben uns weggepackt vor Lachen. Spasti stand einfach bis zur Hintern im Eis und steckte fest. Dann kämpfte er sich frei und versuchte, an einer anderen Stelle übers Eis zu laufen. Er kam nie weiter als zwei Meter, ehe er erneut einbrach. Ich weiß nicht, was gewesen wäre, wenn er es bis zur Mitte des Sees geschafft hätte, wo das Wasser richtig tief war. Ich weiß auch nicht, wie er die Kälte aushielt. Wir riefen ihm zu, er sollte es seinlassen. Spasti dachte nicht daran, er wollte mir den Stock zurückbringen. Irgendwann wurde uns das langweilig, und wir hauten ab, bevor ein Erwachsener kam und uns fragte, was wir da mit Spasti machten. In den folgenden Wochen kam Spasti nicht zur Schule. Lungenentzündung, wurde uns gesagt. Ich habe mich nie bei ihm entschuldigt, aber ich glaube, das hätte er auch nicht verstanden. Vielleicht ist das hier die Strafe. Spasti hatte so viele Kratzer und Narben wegen uns, vielleicht ist das eine Revanche.
— Blödsinn, sage ich und frage sie, ob Jenni damals schon mit ihr um die Häuser gezogen ist. Es ist ein billiger Themenwechsel. Ich will nichts über malträtierte Jungen hören. Ich will etwas Licht. Val beginnt zu erzählen, und obwohl ich den Großteil der Geschichten schon kenne, höre ich zu, als wären sie mir neu.
— Das wär’s, sage ich nach einer Viertelstunde und verschließe das Wundpuder, Soll ich dir was zum Anziehen holen?
Ich bringe ihr ein weites Hemd von Jenni und ihre Reisetasche. Danach verlasse ich das Bad und warte, daß Marek
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