Du. Wirst. Vergessen.: Roman (German Edition)
Macht hat, all die Macht, um mich wieder zu einem Ganzen zusammenzufügen.
»Er hat Ihnen nur diese eine gegeben?«, frage ich und denke dabei an James.
»Es gibt bloß diese eine«, flüstert sie. »Und nun gehört sie dir. Michael schenkt dir die Wahl, die ›Das Programm‹ dir nicht gelassen hat. Aber er hat es sehr deutlich gemacht, dass du ihm vielleicht nie mehr vergeben wirst, wenn du diese Pille schluckst. Dass du ihn hassen könntest.«
Und plötzlich frage ich mich, welche Geheimnisse Realm wohl vor mir verborgen hat. »Ich könnte ihn niemals hassen«, erwidere ich, auch wenn ich mir dessen nicht so sicher bin.
»Das lässt sich leicht behaupten, solange man sich nicht erinnern kann.« Sie wendet sich ab, zieht die Tür auf, bleibt aber erneut stehen, um mich zu betrachten. »Du wirst die Einzige sein, die sich erinnern kann, Sloane, und das allein ist schon ein Fluch. Ich hoffe, du triffst eine weise Wahl. Ich würde nicht gern hören, dass du nicht damit fertig geworden bist und dein Leben beendet hast.« Ihre Lippen verziehen sich zu einem mitfühlenden Lächeln. »Ich denke, manchmal ist die Gegenwart die einzige Wirklichkeit.«
Ich antworte nicht, während sie zurück ins Haus geht und mich allein hier auf der dunklen Veranda stehen lässt, vor dem Haus meines verlorenen Freundes. Ich blicke auf die kleine Tüte hinab. Ich halte James den Rücken zugewandt, während ich hineingreife und die Pille heraushole. Ich starre so lange darauf, bis mein Blick verschwimmt.
Ich blinzele schnell und betrachte die Pille erneut, überlege, wie es mich verändern würde, bekäme ich mein Leben zurück. Ich würde mich an Bradys Tod erinnern, den ganzen Schmerz erneut durchleben. Und dann ist da noch das Leben, das ich mit James geführt habe. Ich könnte die Pille nehmen und mich an alles erinnern, während James weiterhin im Vergessen leben würde. Könnte ich wirklich damit umgehen, ihn so umfassend zu lieben, während für ihn unsere Gefühle immer noch so neu sind? Was wäre, wenn wir uns niemals so sehr geliebt haben? Wenn Realm sich geirrt hat?
Ich könnte James die Pille geben, aber was, wenn es eine schreckliche Wahrheit über Brady oder seine Mutter gibt? Er könnte erfahren, dass es tatsächlich niemanden gibt, dem man vertrauen kann. Vielleicht haben wir einander alle betrogen.
Es ist, als hielte ich ein gesamtes Leben in meinen Hän den. Ich könnte wieder vollständig werden, doch was, wen n ich die Person nicht mag, die ich einmal war?
Ich blicke zum Himmel empor, wo allerletzte blasse Lichtstreifen auf den Wolken liegen, im gleichen Orange wie die Pille. Realm hat mir ein Geschenk gemacht – mir eine Wahl gegeben. Genau wie seine Freundschaft, seine Liebe, die ich auf meine Art erwidere. Aber er hat auch gesagt, dass ich ihm nie vergeben würde, würde ich die Dinge entdecken, die jetzt noch in meinem Kopf verloren sind. Glaube ich das? Glaube ich ihm?
Tränen rinnen mir über die Wangen, und ich blicke noch einmal auf dieses eine kleine Objekt, das so viele Informationen birgt. Leben. Verlust.
Jetzt, in ebendiesem Moment, habe ich, was ich brauche. Ich habe James. Eine Möglichkeit zu entkommen. Doch dies alles könnte auch eine Lüge sein, ein herabhängender Faden, an dem man nicht ziehen darf, weil sich sonst alles auflöst und man es zunichte macht.
Kann ich das Wissen ertragen, was an jenem Tag mit meinem Bruder passiert ist? Da ist die Narbe an meinem Handgelenk. Die Art und Weise, wie meine Mutter mich ansieht, besorgt und wissend. Gott, was wäre, wenn ich eine schreckliche Person gewesen bin? Vielleicht … vielleicht wollte ich deshalb sterben. Vielleicht war ich der Grund dafür, dass James sterben wollte.
Ein Wimmern dringt über meine Lippen, als ich die Pille wieder in die Tüte fallen lasse. Am liebsten würde ich sie unter meinem Absatz zertreten, gleichzeitig aber erfüllt mich der Gedanke mit Grauen, ich könnte später doch noch meine Meinung ändern und hätte sie dann nicht mehr.
Und so falte ich die Tüte zu einem kleinen Plastikviereck und stecke es in die hintere Tasche meiner Jeans. Ich werde sie nicht nehmen, aber ich werde sie auch nicht vernichten. Zumindest jetzt noch nicht.
Und mit dieser Entscheidung bricht mein Herz. Ich nehme Abschied von der Person, die ich einmal war. Und die ich nie wieder auf die gleiche Weise sein kann. Die Leute, die ich früher einmal gekannt habe, sind nicht mehr die Gleichen. Einige sind genauso verändert worden wie ich,
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