Du. Wirst. Vergessen.: Roman (German Edition)
mich ins Herz und erinnern mich an Brady. Daran, dass sie wochenlang nur geweint hat, als er starb. Daran, dass mein Vater zu viel getrunken hat, und dann haben sie einander angeschrien. Ich habe versucht, meine Mutter zu trösten, bis mein eigener Kummer zu stark wurde. Und dann wurde James zu dem einzigen Menschen, dem ich genug vertraute, um ihm meinen Schmerz zu zeigen.
»Ich bin okay, Mom«, versichere ich und versuche, meiner Stimme einen unbeschwerten Klang zu geben, und bin erstaunt, wie leicht mir die Lüge über die Lippen kommt. »Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen.«
Sie nickt, sichtlich erleichtert, und ich gehe um das Auto herum, während sich mein Vater ans Steuer setzt. Ich hebe den gesunden Arm und winke ihr zu. Dann steige ich ein und schnalle mich an.
Mein Vater startet den Wagen und lenkt ihn rückwärts aus der Einfahrt, lächelt meiner Mutter beruhigend zu, als wir an ihr vorbeirollen. Doch als wir auf der Straße sind, schaut er mich von der Seite her an.
»Sloane, ich weiß, dass du nicht versucht hast, dir das Schwimmen beizubringen«, sagt er leise. »Aber was ich jetzt auf der Stelle von dir wissen möchte, ist, ob du es noch einmal versuchen wirst. Ob ich ›Das Programm‹ informieren muss, um sicherzugehen, dass deine Mutter nicht auch noch das letzte Kind verliert, das ihr geblieben ist.«
»Dad …«
»Und lüg mich nicht an«, unterbricht er mich, nicht ärgerlich, nur müde. »Ich muss die Wahrheit wissen. Jetzt. Ich glaube, etwas anderes könnte ich nicht ertragen.«
»Ich werde mir nichts antun, Dad. Ich … ich könnte es nicht.«
»Danke.« Er starrt auf die Straße, während er Richtung Krankenhaus fährt.
Und ich mustere meinen Vater, erinnere mich daran, wie lustig er war, als Brady und ich noch Kinder waren. Daran, wie er Brady in Filme mitgenommen hat, die erst ab siebzehn freigegeben waren, als mein Bruder noch in der Middle School war. Wenn ich mich dann ausgeschlossen fühlte, hat er mir zum Trost ein Eis spendiert.
Er ist alt geworden, wirkt ausgelaugt. Der Verlust meines Bruders war zu viel für ihn, und manchmal denke ich, dass er mich kaum noch wahrnimmt – außer wenn er sich vergewissert, dass ich noch atme.
Als wir in die Notaufnahme kommen, erzähle ich erneut meine Geschichte vom Schwimmen-lernen-Wollen, und größtenteils hört sie sich glaubwürdig an. Ich habe einen kleinen, glatten Bruch, und sie sagen, dass ich Glück hatte. Glück!
Nachdem sie mir einen Gips angelegt haben, verlassen wir das Krankenhaus und kehren nach Hause zurück. Mein Vater schweigt während der gesamten Fahrt. Ich sorge mich, ob er jemals wieder mit mir reden wird.
13. Kapitel
Ich warte. Ein Tag nach dem anderen vergeht. Beim Lunch bleibe ich allein, beobachte die Tür und weiche dem Blick des dunkelhaarigen Betreuers aus. Mein Arm steckt immer noch im Gips, und ich erzähle jedem, dass es ein Unfall war. Sie kaufen mir das ab, auch wenn sie misstrauisch dreinschauen. Immerhin lächele ich und wirke, als hätte ich mich unter Kontrolle. Wenn ich infiziert wäre, würde mir das nicht gelingen. Ich halte sie alle zum Narren.
Ich verbringe mehr Zeit mit meinen Eltern, nicke automatisch, wenn sie über »Das Programm« sprechen oder die neuesten Nachrichten kommentieren. In London hat sich die Zahl der Selbstmorde erhöht, und sie haben ihre eigene Version des »Programms« eingeführt. Was schließlich nur zeigt, was für ein großartiger Erfolg es ist, und beweist, dass Amerika eine wirkungsvolle Behandlung entwickelt hat.
Mich führt es zu der Frage, wie unsere Zukunft aussehen wird – was für Menschen werden hier in zwanzig Jahren herumlaufen? Leute, die niemals Teenager waren, weil man ihre Erinnerungen ausgelöscht hat. Werden sie naiv sein? Leer?
Immer wieder rede ich mir ein, dass James okay sein wird. Dass er zurückkommt und dann genauso ist wie früher. Ich muss einfach daran glauben.
Ich beschließe, nach der Schule ins Wellness Center zu gehen, um Punkte zu sammeln. Durch meine Anwesenheit werde ich demonstrieren, wie gesund ich bin. Wie engagiert ich an meiner Stabilität arbeite. Aber in Wirklichkeit warte ich nur auf James, schließlich weiß ich, dass er früher oder später dort auftauchen wird.
Das Center liegt mitten in der Stadt, gehörte früher dem YMCA , dem Christlichen Verein Junger Menschen. Es ist ein alt wirkendes Ziegelgebäude, doch das Willkommensschild trägt fröhliche Farben, verkündet, was man im Inneren finden wird.
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