Du. Wirst. Vergessen.: Roman (German Edition)
eins von Bradys T-Shirts, die wir nie weggegeben haben.
Ich hebe meine Hand und betrachte erneut den herzförmigen, purpurfarbenen Ring. Es scheint mir eine Ewigkeit her zu sein, dass er ihn mir gegeben hat, und dann begreife ich: Es ist eine Ewigkeit her. Die Ewigkeit, seit Miller starb. Ich fange an zu weinen.
Ich führe den Ring an meine Lippen, küsse ihn, überlege, wo James sich jetzt befinden mag. Wir wissen nichts über »Das Programm«, wissen nicht, was es den Leuten wirklich antut.
Vor ein paar Monaten hat man im Fernsehen eine Dokumentation darüber gebracht, aber die Fakten wurden durch die ansteigende Zahl von Todesfällen in den Hintergrund gedrängt. Die paar Übergriffe, die sie entdeckt haben – zu starker Einsatz von Medikamenten, Patienten, die man fixiert –, tat man als eher unwichtig ab, stattdessen setzte man den Schwerpunkt auf die Resultate. Im »Programm« ist bis jetzt niemand gestorben. Sie alle haben ihren Schulabschluss gemacht, wurden achtzehn und verschwanden vom Radar der Regierung.
Ich lasse meine Hand sinken und beobachte die starke Strömung, sechs Meter unterhalb von mir. Der Fluss ist dort so tief, dass ich nicht auf den Grund prallen werde, aber die Strömung ist stark und wird mich mit sich reißen, genau wie Brady an jenem Tag. Und genau wie er werde ich nicht dagegen ankämpfen. Ich werde mich der Dunkelheit ergeben.
Ich schließe die Augen, während ich mich still entschuldige, bei meinen Eltern, bei allen, die ich im Stich lassen werde. Und dann … stürze ich mich hinab.
Der Wind streicht über mein Gesicht. Vom Fallen wird mir flau im Magen, ich schnappe nach Luft, und genau in d iesem Moment schlage ich aufs Wasser. Scharfe Kälte hü llt mich ein und füllt meinen Mund, ich breite meine Arme aus, als ich tiefer gedrückt und gleichzeitig weggewirbelt werde.
Es ist dunkel und eisig, und plötzlich bin ich von Entsetzen erfüllt, versuche verzweifelt, an irgendetwas Halt zu finden. Versuche krampfhaft, Luft in meine Lungen zu saugen, doch stattdessen schwappt mir Wasser in den Mund. Ich würge, mein Körper krümmt sich. O Gott, ich ertrinke! Ein heftiger Druck legt sich um meine Brust, und ich weiß nun, dass ich nicht sterben will. Ich will hier nicht sterben!
Dann schrammt mein Körper plötzlich über einen Felsen, und ich werde hochgedrückt. Ich klammere mich an ihm fest, würge Flusswasser aus, bis ich überzeugt bin, dass ich gleich ohnmächtig werden und sowieso sterben werde. Meine Kehle brennt, meine Lungen schmerzen. Mein Arm ist ganz taub, und ich fürchte, dass er gebrochen ist.
Ich konzentriere mich darauf, Luft zu holen, doch meine Kehle ist dafür zu eng geworden. Das Adrenalin hält mich bei Bewusstsein, doch darunter liegt eine Furcht, wie ich sie noch nie gespürt habe. Eine Verletzlichkeit, wie ich sie noch nie empfunden habe – und nie wieder in meinem Leben fühlen möchte. Ich wimmere vor mich hin.
Das Wasser rauscht an mir vorbei, meine Beine werden mit der Strömung mitgezogen, aber ich klammere mich weiterhin fest, lausche meinen schwachen Atemzügen. Meine Augen sind geschwollen und brennen, und ich blinzele, als ich die Welt um mich herum sehe. Das Grün der Blätter, das Grau der Felsen, das Glitzern der allmählich tiefer sinkenden Sonne auf dem Wasser.
Ich lege meinen Kopf auf den gebrochenen Arm, meine Kleider kleben an mir, und ich starre auf meinen Ring. Ich hab es nicht fertiggebracht, mich umzubringen, konnte nicht loslassen, wie so viele andere es getan haben. Ich frage mich, ob sie wohl auch in den letzten Minuten ihre Meinung geändert haben, aber keinen Felsen fanden, an dem sie sich festkrallen konnten. Ich fange an zu schluchzen, als ich über Brady nachdenke und darüber, dass ich ihm früher hätte hinterherspringen sollen, um noch zu ihm zu gelangen. Vielleicht hat er doch weiterleben wollen. Vielleicht ist es meine Schuld, dass er es nicht geschafft hat.
Ich klammere mich an den Felsen, weine, bis meine Gedanken verblassen und mein Körper müde ist. Als ich mich leer fühle, sammle ich meine letzte Kraft und ziehe mich an dem Felsen hoch, krieche zum Ufer. Meine Beine sind so taub von der Kälte, dass ich kaum spüre, wie sie den Boden berühren. Mein Arm fängt an zu pochen, und einen meiner Schuhe habe ich im Fluss verloren.
Es ist schon dunkel, als ich es endlich bis zum Auto schaffe. Ich habe den Schlüssel im Zündschloss stecken lassen, und als ich den Wagen starte, drehe ich die Heizung auf, damit
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