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Dubliner (German Edition)

Dubliner (German Edition)

Titel: Dubliner (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Joyce
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Sixpencestück bekommen. Sie erinnerte sich, wie ihr Vater erhobenen Hauptes in das Krankenzimmer zurückgekommen war und sagte:
    – Verdammte Italiener! Hier herüberzukommen!
    Während sie so grübelte, traf die jammervolle Vision vom Leben ihrer Mutter sie wie ein Fluch in ihrem Innersten – dieses Leben alltäglicher Aufopferungen, das schließlich im Wahnsinn endete. Sie zitterte, als sie die Stimme ihrer Mutter wieder hörte, die immer wieder in verrücktem Starrsinn wiederholte:
    – Derevaun Seraun! Derevaun Seraun! *
    Sie sprang auf, von jäher Angst gepackt. Fliehen! Sie musste fliehen! Frank würde sie retten. Er würde ihr Leben geben, vielleicht auch Liebe. Aber sie wollte leben. Warum sollte sie unglücklich sein? Sie hatte ein Recht auf Glück. Frank würde sie in seine Arme nehmen, sie fest umschließen mit seinen Armen. Er würde sie retten.
    Sie stand in der wogenden Menschenmenge im Passagiergebäude an der North Wall * . Er hielt ihre Hand, und sie wusste, dass er auf sie einredete, immer und immer wieder etwas von der Überfahrt sagte. Das Gebäude war voller Soldaten mit braunen Tornistern. Durch die weit geöffneten Tore der Hallen fiel ihr Blick kurz auf die schwarze Masse des Schiffes, das mit erleuchteten Bullaugen an der Kaimauer lag. Sie antwortete nichts. Sie fühlte, dass ihre Wangen kalt und bleich waren, und aus einer Verwirrtheit der Verzweiflung heraus betete sie zu Gott, dass er sie weisen möge, ihr zeigen, was ihre Pflicht sei. Die Schiffssirene stieß einen lang gezogenen klagenden Ton in den Nebel. Wenn sie ginge, würde sie morgen mit Frank auf dem Meer sein, auf Buenos Aires zu dahindampfen. Ihre Überfahrt war gebucht. Konnte sie noch zurück, nach allem, was er für sie getan hatte? Ihre Verzweiflung löste in ihrem Körper Übelkeit aus, und sie bewegte unablässig ihre Lippen in einem stillen inbrünstigen Gebet.
    Eine Glocke schwang dröhnend gegen ihr Herz. Sie fühlte, wie er ihre Hand packte:
    – Komm!
    Alle Meere der Welt schlugen über ihrem Herzen zusammen. Er zog sie in sie hinein: Er würde sie ertränken. Sie umklammerte das eiserne Gitter mit beiden Händen.
    – Komm!
    Nein! Nein! Nein! Es war unmöglich. Ihre Hände krallten sich im Wahn um die Eisenstäbe. Aus den Meeren sandte sie einen Schrei der Qual!
    – Eveline! Evvy!
    Er hetzte hinter das Sperrgitter und rief ihr zu, ihm zu folgen. Er wurde angeschrien, er solle weitergehen, doch er rief noch immer nach ihr. Sie wandte ihm ihr weißes Gesicht zu, passiv, wie ein hilfloses Tier. Ihre Augen gaben ihm kein Zeichen der Liebe, des Abschieds oder des Erkennens.

N ACH DEM R ENNEN
    Die Wagen fuhren mit großer Geschwindigkeit zurück nach Dublin und rollten dabei auf der Landstraße von Naas so glatt wie Kugeln in einer Rinne. Auf der Anhöhe bei Inchicore hatten sich Gruppen von Schaulustigen versammelt, um die Autos heimwärts brausen zu sehen, und durch diesen Engpass der Armut und Untätigkeit ließ der Kontinent seinen Wohlstand und Fleiß sausen. Ab und zu ertönten aus den Menschengruppen die Jubelrufe der dankbar Unterdrückten. Ihre Sympathie gehörte jedoch den blauen Rennwagen – den Wagen ihrer Freunde, der Franzosen.
    Die Franzosen * waren überdies praktisch die Sieger. Ihre Mannschaft hatte gut abgeschnitten; sie hatten den zweiten und dritten Platz belegt, und der Fahrer des erstplatzierten deutschen Autos war dem Vernehmen nach Belgier. Jedes der blauen Autos erhielt daher doppelten Applaus, als es den Scheitel der Anhöhe erreichte, und jeder Willkommensruf wurde von denen im Wagen mit Lächeln und Kopfnicken quittiert. In einem dieser schnittigen Autos saßen vier junge Männer, deren Stimmung in diesem Augenblick das übliche Maß gallischer Siegerlaune weit überschritt: In der Tat waren diese vier jungen Männer fast übermütig. Es handelte sich um Charles Ségouin, den Besitzer des Autos; André Rivière, einen jungen Elektriker kanadischer Herkunft; einen massigen Ungarn namens Villona und einen gut gekleideten jungen Mann namens Doyle. Ségouin war in guter Stimmung, weil er unerwartet mehrere Vorbestellungenerhalten hatte (er war im Begriff, in Paris einen Autosalon zu eröffnen), und Rivière war in guter Stimmung, weil er zum Leiter dieses Geschäfts gemacht werden sollte; und außerdem waren beide jungen Männer (die Cousins waren) in guter Stimmung wegen des Erfolgs der französischen Autos. Villona war in guter Stimmung, weil er ein sehr zufriedenstellendes Mittagessen

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