Dübell, Richard - Eine Messe für die Medici
verstehen, weil die Wärter die Tür zuzogen und Jana mit sich nahmen. Ich starrte die Tür an. Mein Herzschlag war so schwer, dass mein Kopf dröhnte.
»Santa Verena, ora per lei«, sagte jemand.
Und die Panik schlug vollends über mir zusammen.
Als Junge war ich auf eine hohe Linde geklettert. Der Baum wuchs in den Lechauen und war nicht größer oder beeindruckender als viele andere Bäume, die dort wuchsen. Aus irgendeinem Grund hatte er es jedoch mir und meinen Freunden angetan. Wir nannten ihn Galgenbaum und untersuchten jede Rille und jede Abnutzung an seinen weit ausgreifenden unteren Ästen in der makabren Hoffnung, die Spuren eines Seiles zu finden, das sich im Todeskampf des Gehängten in das Holz eingerieben hatte. Der Baum ragte in die Höhe, seine Krone eine unter vielen im Blätterdach des Auwaldes, und wir versäumten es kaum einen Tag, ihn zu besuchen, und fanden ihn aller Realität zum Trotz höher, dunkler, finsterer, bedrohlicher als alle seine Geschwister um ihn herum. Wir hatten unterschiedliche Meinungen darüber, wie lange er schon dort stand und wer der erste Unselige gewesen war, der sein Leben, an seinen Ästen hängend, verzappelt hatte. Wir waren uns allerdings darüber einig, dass es der mächtigste und imposanteste und Furcht einflößendste Baum aller Reviere aller Augsburger Buben war und dass wir ihn niemals durch Einritzen von Initialen, Abbrechen von Zweigen oder gar durch eine Besteigung entweihen würden.
Vielleicht war ich mit meinen Freunden über den letzten Punkt nicht so einig.
Die Neugier wächst mit dem Verbot, und meiner Neugier gelang es, größer zu werden als die Angst und alle Schwüre. Es muss auch angemerkt werden, dass wir niemals Seilspuren an den Ästen gefunden hatten, obwohl wir einander auf den Schultern balancierten, um ihnen so nahe wie möglich zu kommen. Plötzlich überzeugte ich mich selbst davon, dass der Baum niemals ein Galgenbaum gewesen sein konnte und dass folglich alle Ehrfurcht auf einem Irrtum beruhte und dass der Baum es darum verdient hatte, bestiegen zu werden. Er hatte uns gefoppt, und es war an der Zeit zu beweisen, dass ein bewegungsloser, dummer, völlig unbekannter Baum keinesfalls ungestraft einen Jungen namens Peter Bernward foppen konnte.
Ich suchte mir einen Tag aus, an dem meine Freunde ein anderes Spiel entdeckt hatten, und schlich mich zu den Lechauen hinaus. Der Baum wartete auf mich. Ich zog mich zu seinen unteren Ästen empor und dann, als der Frevel nicht geahndet wurde, zu den nächsthöheren. Die Äste darüber waren noch einfacher zu erklimmen. Ihre Besteigbarkeit wurde von den ihnen folgenden Ästen sogar übertroffen. Die Kronen der kleineren Eschen, die Holunderbüsche und die Haselsträucher lagen bereits unter mir. Atemlos kletterte ich weiter. Der Baum mochte kein Galgenbaum sein, aber ihn zu ersteigen machte Spaß. Ich hängte mich an den Ast über meinem Kopf, schlang die Beine um ihn und kämpfte mich rittlings auf ihn hinauf. Der Boden lag bestimmt schon drei oder vier Mannslängen unter mir. Ich richtete mich auf und stieß mit dem Kopf an etwas Fransiges, Nachgiebiges.
Es war ein Ast. Es war kein Ast. Es war ein modriger, am Ende zerfledderter, vom Alter grau gewordener, in der Astgabel über mir befestigter Strick.
Meine Freunde mussten mich gesucht haben. Irgendwann trafen sie unter dem Galgenbaum ein und spähten zu mir hinauf. Ich weiß nicht, wie lange ich dort gesessen hatte, das Strickende vor meinem Gesicht baumelnd. Sie riefen zu mir herauf, ich solle hinuntersteigen. Ich konnte nicht. Ich konnte es ihnen nicht einmal begreiflich machen. Ich brauchte alle Kraft, um die Panik niederzuhalten, die seit der Entdeckung des Stricks in mir hochklettern wollte, und wenn ich zu ihnen gesprochen hätte, wäre der Damm gebrochen. Ich wusste, wenn die Panik mich überwältigen würde, würde ich niemals mehr von diesem Baum steigen können, würde ich hier verhungern, verdursten, erfrieren, würde zum Gespenst des Baumes werden, das sich in den leeren Rippenbögen eines langsam zerfallenden Jungenskeletts verbarg und mit dem Wind in der Baumkrone um die Wette heulte.
Meine Freunde standen ratlos vor dem Baum. Ich war eine kleine, leichenblasse Gestalt, vier Mannslängen über der Erde, die sich mit harzverklebten Händen festkrallte und auf nichts reagierte. Schließlich lief einer von ihnen davon und kehrte mit einem der größeren Jungen aus der Nachbarschaft zurück. Dieser schüttelte amüsiert den
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