Duell der Leidenschaft
durch Tremont oder irgendjemand anderen geschehen sollte, blieb noch abzuwarten.
Ein gellender Schrei von oben holte Kerr aus seinen Gedanken. Er kam von einer Möwe, die um den Mast kreiste und sich schließlich auf einem Quermast niederließ. Ihr folgten drei Artgenossen, die sich wie geschwungenes Silber vom Himmel abhoben. Ihr Auftauchen bedeutete, dass das Land nicht mehr fern war. Kerr blinzelte und konnte durch den Nebel in der Ferne etwas erkennen, das wie tief hängende Wolken aussah, bei dem es sich aber wahrscheinlicher um die mexikanische Küste handelte. Durch den Sturm lagen sie gut in der Zeit, und mit etwas Glück würden sie Vera Cruz schon in wenigen Tagen erreicht haben.
Er konnte es nicht erwarten.
Plötzlich musste er so heftig gähnen, dass er glaubte, er würde sich den Kiefer ausrenken. Letzte Nacht hätte er sich gar nicht in seine Koje begeben müssen, nachdem Sonia in ihre Kabine gegangen war. Er hatte dagelegen und in die beklemmende Dunkelheit gestarrt, dem Meeresrauschen ebenso gelauscht wie dem Zischen, mit dem der Dampf durch die Rohre im Rumpf geleitet wurde, sowie dem monotonen Stampfen der Kurbelwelle. Dieser gleichmäßige Rhythmus mit dem beständigen Vor und Zurück brachte ihn fast um den Verstand. Er passte viel zu genau auf seinen primitiven Impuls und quälte ihn mit Gedanken über jene Frau in seiner Obhut, die nur wenig mit seiner Aufgabe als ihr Beschützer zu tun hatten.
O Gott, sie konnte ihn aber auch auf die Palme bringen. Sie machte ihn wütend, aber sie faszinierte ihn auch. Sie war zum Teil verwöhnter Liebling und zum Teil Löwin, vornehme Lady und Lorelei. Die blasse, sanfte Mulde zwischen ihren Brüsten war in seinem Kopf wie eine himmlische Vision, ihr Duft verfolgte ihn. Die Form ihrer Schultern, der Schwung ihrer Taille, in den sich sei-ne Hand so vollkommen einfügte, der zarte Schatten, den ihre Wimpern auf ihre Wangen warfen - diese und Dutzende ähnliche Bilder mehr wechselten sich unablässig vor seinem geistigen Auge ab. Jedes einzelne davon konnte ihn eine solch zügellose Lust anheimfallen lassen, dass er sich am Rande einer gesellschaftlichen Blamage bewegte.
Seine Selbstbeherrschung war doch einmal viel besser gewesen. Was war aus ihr geworden?
Der Wind spielte mit den Schößen seines Gehrocks und schlug sie gegen die Reling. Etwas Schweres in der Tasche schlug zunächst gegen die Strebe und dann gegen seinen Oberschenkel. Als er in die Tasche griff, ertastete er als Erstes sein Taschenmesser mit Elfenbeinheft. Er holte es heraus und schob es in die Hosentasche, dann förderte er Sonias Fächer zutage, den er eingesteckt hatte. Als er ihn öffnete, stieg ihm ein Hauch ihres Veilchendufts entgegen, und der dünne Stoff flatterte im Wind wie die Flügel eines Schmetterlings, als wolle er sich aus seinem Griff losreißen und in die Freiheit entkommen.
Freiheit.
Das war alles, was Sonia wollte. Jedenfalls behauptete sie das. Und wer wollte es ihr verdenken? Er selbst strebte nach Freiheit — Freiheit, wieder sein Leben zu leben, was er sich verdienen würde, wenn er endlich den Mann niederrang, der den Tod seines Bruders auf dem Gewissen hatte. So lange Zeit war er dessen Spur gefolgt, dass er bereits geglaubt hatte, nie das Ende dieser Reise zu erreichen. Zeitweise war es ihm wie ein Ziel vorgekommen, das genauso unerreichbar wie das war, was Sonia antrieb.
Irgendwo hinter ihm wurde knarrend eine Tür geöffnet, gefolgt von Schritten an Deck. Diese leichten Schritte waren unverkennbar. Er klappte den Fächer zu, tarnte aber mit seinem Körper diese Bewegung, sodass er diese Trophäe wieder in seiner Tasche verstecken konnte. Als Sonia sich ein Stück weiter zu ihm stellte, lagen seine Hände auf der langen Reling.
»Sie sind früh auf«, stellte sie fest. Ihr Tonfall war nicht so freundlich wie an den Tagen zuvor.
»Dann sind wir schon zu zweit.« Kerr rechnete die Wache nicht mit, da sie den Mann vermutlich nicht zur Kenntnis genommen hatte.
»Sicher werden Sie heute frühstücken können, nachdem die See wieder viel ruhiger ist.«
»Möglicherweise.«
Sie warf ihm einen flüchtigen Blick zu, als wolle sie seine Laune bestimmen. »Ich gestehe, ich war nahezu erfreut zu wissen, dass Sie auch eine Schwäche haben.«
»Ach ja?«
»Das macht Sie ... nicht so unnahbar. Sie wissen, Sie wirken ziemlich Furcht einflößend.«
Zu gern hätte er ihr gesagt, dass sie sich ihm jederzeit nähern konnte, aber das würde dem Verhältnis zwischen
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