Duell: Island Krimi (German Edition)
unter Verdacht, Ragnar umgebracht zu haben. Das Gleiche galt für das Kinopersonal. Der Meteorologe war empört, als man ihm das mitteilte, er wies jeden Verdacht, dass er den Jungen umgebracht habe, weit von sich. Die anderen Besucher, die sich sofort gemeldet hatten, waren da sehr viel gelassener und zeigten mehr Verständnis. Es handelte sich um zwei Gruppen von Jungen, drei Vierzehnjährige aus einer Schule im Vogar-Viertel, die nie mit der Polizei in Berührung gekommen waren, und vier Jugendliche, die sich zu der Fünfuhrvorstellung verabredet hatten, denen aber nichts Außergewöhnliches aufgefallen war. Sechs Kinogäste hatte man noch nicht ausfindig machen können. Darunter die einzige Frau, die sich eine Karte für den Western mit Gregory Peck gekauft hatte.
»Dein lieber Bobby hat anscheinend nicht vor, sich hier blicken zu lassen?« Marian saß auf dem Beifahrersitz des Dienstwagens und stellte Albert diese Frage, während sie auf dem Weg ins Gamla Bíó waren. »Nein, wenn er sich heute oder morgen nicht blicken lässt, hat sich die Geschichte wohl erledigt«, erklärte Albert.
»Er bringt das Schachspiel in Verruf.«
»Ja.«
»Aber du findest ihn trotzdem toll?«
»Er ist das größte Schachgenie der Welt«, sagte Albert, der sich sehr für Schach interessierte und in seinen jüngeren Jahren an vielen Schachturnieren teilgenommen hatte, die vom isländischen Schachverband organisiert wurden.
»Irgendjemand hat behauptet, dass Kissinger Bobby Fischer Druck gemacht hat.«
»Das würde mich nicht überraschen, die Ehre der Amerikaner steht auf dem Spiel. Im Grunde genommen geht es um die Frage, ob er sich traut, gegen Spasski anzutreten oder nicht.«
»Wirst du dich freiwillig für das Sicherheitsteam melden, falls er doch noch kommt?« Marian Briem hatte am Vormittag an einer Besprechung teilgenommen, auf der es um die Frage ging, wie viele Sicherheitsbeamte für Bobby Fischer und Boris Spasski abgestellt werden sollten, falls das Match doch noch stattfinden würde.
»Ich spiele mit dem Gedanken«, sagte Albert. »Es wäre schon toll, Fischer so nahe zu kommen. Falls er sich tatsächlich blicken lässt.«
Das Gamla Bíó hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Hafnarbíó. Das eindrucksvolle Gebäude an der Ingólfsstræti war in den zwanziger Jahren errichtet worden, als die Stummfilmproduktion in ihrem Zenit stand. Von außen war es weiß verputzt, die eindrucksvolle Fassade war klassizistisch gestaltet, mit vier jonischen Säulen und einem Tympanon. Das Kino bot sechshundert Besuchern Platz.
Der Platzanweiser erwartete sie im Foyer und gab ihnen die Hand. Zwei Reinigungsfrauen kamen die schmale Treppe von den oberen Rängen herunter, grüßten sie mit Eimern und Schrubbern in der Hand und verschwanden in einem winzigen Raum hinter der Kinokasse.
Der Platzanweiser führte sie in den unteren Rang des Kinos, klappte einen Sitz herunter und setzte sich. Albert setzte sich auf den Sitz auf der anderen Seite des Gangs. Marian Briem zog es vor, zwischen ihnen stehen zu bleiben.
Albert und Marian hatten sich ausführlich über Ragnars Tonaufnahmen unterhalten, über die Kassetten und das Gerät, das er in seiner Schultasche mit in die Kinos genommen hatte. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er es auch im Hafnarbíó dabeigehabt und die Tonspur von Stalking Moon mitgeschnitten. Dass jemand ihn getötet hatte, um an den Kassettenrekorder und die Aufnahmen vom Film heranzukommen, schien ziemlich unwahrscheinlich. Sowohl für Marian als auch für Albert kam es als Mordmotiv jedenfalls nicht in Frage. Sehr viel plausibler war, dass Ragnar etwas aufgenommen hatte, was er nicht hören sollte. Und da wohl kaum jemand einen Monolog in Ragnars Nähe gehalten hatte, musste es sich wohl um ein Gespräch zwischen zwei Personen gehandelt haben, möglicherweise waren es auch sogar mehrere Personen gewesen. Alles deutete darauf hin, dass die Beteiligten entschlossen zu Werke gegangen waren, als sie herausfanden, dass ihre Unterhaltung mitgeschnitten worden war, mit tödlichen Folgen für Ragnar. Der Junge schien keine Chance gehabt zu haben, sich zu wehren. Jedenfalls war der Pathologe zu dem Ergebnis gekommen, dass die Messerstiche so ausgeführt worden waren, dass sie den größtmöglichen Schaden anrichteten, kurz nebeneinander direkt in den Herzmuskel und in die Herzschlagader. Ragnars Tod war rasch und schmerzlos erfolgt. Er hatte nicht einmal die Möglichkeit gehabt, um Hilfe zu rufen. Und wenn,
Weitere Kostenlose Bücher