Duell: Island Krimi (German Edition)
trug nur einen Büstenhalter, der speziell für sie angefertigt worden war. Ohne es zu wollen, starrte Katrín auf den entstellten Körper, auf die große Narbe, die von der Operation herrührte. Die rechte Seite war eingefallen, und das Schlüsselbein stand vom Hals ab wie ein Bügel ohne etwas darunter.
Die Frau spürte plötzlich, dass sie beobachtet wurde. Sie drehte sich langsam um, und sie und Katrín schauten sich einen Augenblick lang in die Augen, bevor die Frau die Tür zumachte. Ihre Miene war hart und streng, und Katrín wusste, dass sich dahinter Schmerz und Ohnmacht verbargen.
Katrín öffnete die Augen.
»Wo … wo bist du gewesen?«, fragte sie.
»Nirgendwo«, antwortete Marian. »Ich war hier. Ich war die ganze Zeit hier. Du bist eingeschlafen.«
»… es tut so weh … der Schmerz ist wieder da … dieser Schmerz.«
Marian sprang auf und holte eine Krankenschwester. Katrín stöhnte vor Schmerzen. Die Krankenschwester verließ das Zimmer und kam wieder zurück mit einer großen Spritze, die sie Katrín ganz langsam in die Vene drückte. Die schmerzverzerrten Gesichtszüge von Katrín entspannten sich langsam, und sie schlief wieder ein. Die Krankenschwester bat Marian, das Zimmer zu verlassen. Die Besuchszeit war vorbei.
Marian ging auf das Zimmer im ersten Stock, legte sich sofort ins Bett, zog sich die Bettdecke über den Kopf, vergrub das Gesicht im Kopfkissen und weinte.
Drei Wochen später konnte Marian die dick vermummte Freundin im Rollstuhl aus dem Hauptgebäude des Sanatoriums nach draußen schieben, auf die Rasenfläche unterhalb der Liegehalle. Von dort hatte man einen schönen Blick auf den Fjord und die bewaldeten Hügel ringsum. Es war schon herbstlich geworden, und die Bäume hatten sich verfärbt, sie erglühten in Gelb, Braun und Rostrot. Auf dem Fjord war reger Verkehr. Marian und Katrín sahen den Booten zu, die langsam vorbeiglitten. Die Sonne senkte sich.
»Bist du nur noch eine Woche hier?«, fragte Katrín.
»Ja«, antwortete Marian. »Ich fahre in ein paar Tagen zusammen mit zwei anderen Kindern nach Kopenhagen. Dort wird mich jemand in Empfang nehmen und zum Schiff bringen.«
»Ich muss noch bis Weihnachten hierbleiben«, sagte Katrín. »Der Arzt hat es mir heute Morgen gesagt. Er hat auch gesagt, dass ich Glück gehabt habe.«
»Die Lunge wird sich bessern.«
»Ja, das glaubt er.«
»Ist das nicht gut?«
»Doch, ja.«
»Werdet ihr irgendwann mal wieder nach Island zurückkehren?«
»Papa sagt, dass wir in Dänemark bleiben. Er meint, dass es am besten für uns ist. Wirst du zurück ins Sanatorium kommen?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Marian. »Ich würde schon gerne wiederkommen. Hier ist es schön.«
Katrín stöhnte leise und versuchte, sich im Rollstuhl aufzusetzen.
»Alles in Ordnung?«, fragte Marian in besorgtem Ton.
»Da war gerade wieder dieser stechende Schmerz, aber der ist schon wieder vorbei.«
Sie hustete vorsichtig, dabei verzerrte sich ihr Gesicht.
»Erinnerst du dich an die Frau in Ísafjörður, von der ich dir erzählt habe?«, fragte sie und zog die Wolldecke enger an sich.
Ein Ruderboot legte an der Landebrücke vor der Liegehalle an. Zwei Männer sprangen heraus und vertäuten das Boot. Die beiden arbeiteten in der Küche und hatten in der schönen Nachmittagssonne auf dem Fjord geangelt. Sie hatten ein paar Fische gefangen, die sie in einem Eimer hinauf zum Sanatorium trugen. Sie winkten den Kindern zu, die in der Liegehalle ruhten, und nickten lächelnd zu Marian und Katrín hinüber, als sie an ihnen vorbeikamen.
»Du meinst die Frau, die auch diese Operation über sich ergehen lassen musste?«
»Ich habe meine Mutter einmal nach ihr gefragt. Sie kannte die Familie und sagte mir, dass die Frau es furchtbar schwer gehabt hat. Es gelang ihnen nicht, ihr Leben zu retten. Sie ist später doch an der Tuberkulose gestorben.«
»Du wirst es schaffen, du wirst wieder gesund, sonst hätten sie das doch nicht gemacht.«
»Aber sie konnte nicht gerettet werden.«
»Du bist nicht sie.«
»Vielleicht wollte sie nicht mehr leben, nachdem sie operiert worden war.«
Marian sah Katrín an und merkte, dass sie gar nicht mehr über die Frau in den Westfjorden sprach. Zwei Mädchen, die auch in dem Rotkäppchen-Stück mitgewirkt hatten, gingen vorbei und schauten Katrín mitleidig an. Katrín wandte den Kopf ab, sie wollte nicht mit ihnen reden.
»Ich möchte wieder in mein Zimmer«, sagte sie.
Marian stand auf,
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