Dünengrab
Slip aus und ging nach oben, wo sie sich aufs Bett legte und die Augen schloss. Aber der Schlaf kam nicht. Nur der Kloß in ihrem Magen glühte.
22
Vikki starrte in die Dunkelheit und lauschte dem Tropfen. Plopp. Plopp. Vorhin hatte sie bei 1312 aufgehört, mitzuzählen. Vielleicht hatte sie es aber bereits gestern oder vorgestern aufgegeben. Hier, in seinem Reich, dessen einzige Bewohnerin sie war, verschmolzen Zeit und Raum miteinander. Hier war alles und nichts gleichzeitig möglich. Mit einem Ruck stemmte sie die Beine auseinander. Sofort explodierte ein scharfer Schmerz in ihren Knöcheln, wo sich die Kabelbinder tief in das wunde Fleisch gruben. Vikki keuchte und war im nächsten Moment wieder voll bei Bewusstsein. Schmerz, das hatte sie inzwischen gelernt, war die einzige Möglichkeit, sich vor dem Wegdämmern in die große Leere zu bewahren – dorthin, wo der Wahnsinn grinsend mit offenen Armen auf sie lauerte.
Der Wahnsinn glich in ihrer Vorstellung einem Puck, einem der Koboldwesen, von denen Vikkis Onkel Heiner früher erzählt hatte, wenn es nachts im Gebälk knarrte. Pucks lebten an Land, manchmal auch auf den Schiffen, wo man sie Klabautermann nannte. »Wenn es klopft, bleibt er, wenn es hobelt, dann geht er«, hieß es. Was das Wesen auf dem Dachboden von Onkel Heiner anging, so musste man es gut behandeln, weil es kleine Mädchen sonst mitten in der Nacht mit dürren Klauen auf den Dachboden zerrte, wo es im kalten Licht des Mondes seine fischgrätenähnlichen Zähne entblößte, um von dem weichen Kinderfleisch zu fressen. Alles war besser, als sich von dem Monster erwischen zu lassen, über das man nicht sprechen durfte, weil es feine Ohren hatte. Damit Onkel Heiner den Puck immer gut behandelte, musste Vikki Onkel Heiner ebenfalls gut behandeln und auf eine bestimmte Art nett zu ihm sein. Wenn sie ganz besonders nett gewesen war, bekam sie sogar etwas Taschengeld.
Und auch hier, in ihrem dunklen Gefängnis, würde Vikki nett zu dem Mann sein, der sie verschleppt hatte, um nicht gefressen zu werden. Sie würde ihn gut behandeln, um das Monster in ihm zu besänftigen. Sie würde wach bleiben müssen, damit der Puck sie nicht zu fassen bekam. Eine andere Chance gab es nicht. Sie musste unentbehrlich werden und sein Spiel spielen, um so lange wie möglich am Leben zu bleiben – und dabei einen Weg finden, wie sie entkommen konnte.
Vikki dachte nach. Der Mistkerl stand auf Wasser. In seinen Phantasien ging es ums Ertrinken. Sie kannte Leute, denen es gefiel, wenn man ihnen die Luft beim Sex nahm. Im Grunde war das etwas Ähnliches mit vertauschten Rollen: Er fuhr darauf ab, Angst zu erzeugen und Macht auszuüben, zu würgen, statt gewürgt zu werden. Außerdem hatte er einen Spleen mit dem Verliebtsein. Und wenn Vikki eines gelernt hatte, dann war es, Männern Gefühle vorzugaukeln und genau das zu sein, was diese in ihr sehen wollten – wie eine lebendige Puppe, eine Stellvertreterin, an der sie ihre Phantasien ausleben konnten, ein Objekt, das ihnen etwas Zuneigung suggerierte.
Aber selbst wenn es ihr gelang, wenigstens ein paar Fäden in die Hand zu bekommen – er würde sie niemals wieder hier rauslassen, zumindest nicht lebendig. Ein Schauer schüttelte Vikkis geschundenen Körper. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Ob da draußen irgendjemand nach ihr suchen würde? Wann würde es überhaupt auffallen, dass sie nicht mehr da war? Vikki schniefte.
Schließlich hörte sie die Schritte. Sie pochten wie auf einer hölzernen Treppe, gedämpft durch die dicken Wände. Wenn es klopft, dann bleibt er, dachte Vikki und bekam eine Gänsehaut. Metallisches Knirschen. Die Tür knarrte. Die Glühbirne flammte auf. Das Licht traf auf Vikkis Netzhaut und schnitt ihr wie ein Laserstrahl durchs Gehirn. Vorsichtig öffnete sie die Lider und sah den Mann da stehen. Regungslos starrte er sie an. Er hielt etwas in den Händen. Es sah aus wie eine Transportbox, die man hinten auf ein Motorrad klemmte.
Gerade groß genug, dachte Vikki und begann zu zittern, um einen abgeschnittenen Kopf darin zu verstauen.
23
Das Rathaus befand sich seit vielen Jahren im Werlehof – einem früheren Adelssitz aus dem achtzehnten Jahrhundert. Es war mit braunroten Klinkern verkleidet. In der Mitte der beiden Flügel befand sich ein Turm nebst Glockenspiel unter dem Dach, wodurch der Bau wie ein kleines Schlösschen wirkte. Direkt neben dem Herrenhaus verlief ein Kanal ins Landesinnere, der von Schilf und einigen
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