Dünengrab
Fragen finden wir in Werlesiel. Den Täter auch.«
Femke sah zu Boden. »Mein Gefühl sagt mir das ebenfalls – aber was macht dich so sicher?«
»Mein Gefühl.« Tjark schmunzelte. »Anna Novák stammte aus Wilhelmshaven. Zwei weitere vermisste Prostituierte ebenfalls. Die Kollegen von der Soko überprüfen, ob sich eine von ihnen unter den Opfern befindet – oder alle beide. Ich kann mir vorstellen, dass die Rechtsmedizin diese Annahme mit entsprechenden Identifizierungen belegen wird. Vikki hingegen stammt aus Werlesiel, hat mit dem Internetdienst nichts zu tun, und sie ist weder lebend noch tot aufgetaucht. Das alles hat etwas zu bedeuten.«
»Und was?«
»Ein Serientäter entwickelt sich. Es hat ihm nicht mehr gereicht, immer nur dasselbe zu tun. Er hat einen neuen Reiz gesucht. Er wollte beweisen, dass er weiter gehen kann als bislang, ohne erwischt zu werden. Er hat sich sicherer gefühlt und wurde mutiger. Deswegen hat er sich an jemandem vergriffen, der ihm näher ist als eine beliebige Person. Vielleicht auch an jemandem, der ihm persönlich wichtiger ist. Du erinnerst dich außerdem an unser Gespräch am Küstenstreifen?«
Femke sagte: »Der Täter begräbt seine Opfer immer an ein und demselben Ort in den Dünen. Das kann er im Moment nicht mehr. Er wartet, bis die Bahn wieder frei ist.«
Tjark und Fred nickten.
Ja, dachte Femke. Da war was dran. Und immer noch sagte ihr dieser Ort irgendetwas – wenn sie nur endlich darauf kommen würde. »Ich weiß nicht … Würde er wirklich so leichtsinnig sein und dort wieder …«
»Gott kann alles, denn Gott ist der Größte.«
»Aber es erhöht sich damit auch die Chance, dass er Vikki nun wirklich tötet, wenn er sich sicherer fühlen kann.«
»Es sei denn«, meinte Fred, »wir sind schneller.«
Tjark stieß in einer langen Fahne den Rauch aus. »Warum hat Vikki ihr Telefonat mit der Werlesieler Brauerei geführt?«
Femke sagte: »Das habe ich mich auch schon gefragt – ich war sehr überrascht, als ich das eben in der Besprechung gehört habe, und ich habe darüber nachgedacht.«
»Schieß los«, sagte Fred.
Femke verscheuchte eine Wespe. Dann hob sie beide Zeigefinger, den ganzen und den halben, als wolle sie ihre Worte ordnen und die Gedanken in die richtigen Zusammenhänge dirigieren. »Okay, eins nach dem anderen. Vikki war zunächst bei Fokko Broer aufgetaucht. Als wir die Unfallstelle untersucht haben, Tjark, kam ein Wagen vorbei: Knut Mommsen fuhr in Richtung von Fokkos Haus. Weiter sind Kröger und Harm mit Vikki gesehen worden. Harm hatte außerdem wohl Sex mit ihr. Davor soll Fokko mit den beiden Politikern in einem Restaurant gestritten haben. Harm und Kröger sind in der letzten Zeit oft mit Mommsen gesehen worden. Außerdem ist bekannt, dass Mommsen häufig ausgelassene Partys auf dem Brauereigelände feiert.« Sie dachte nach. »Ich bin mir nicht sicher, aber wenn ich diese Fakten aufzähle, dann ergibt sich daraus ein gewisses Bild, nicht? Zumindest ein diffuses.«
Fred nickte. »Mich würde interessieren, wann die letzte dieser Partys bei Mommsen war und was genau es mit diesen Sausen auf sich hat.«
»Und ich würde wirklich gerne wissen«, fügte Tjark hinzu und schnippte gleichzeitig die Kippe weg, »ob Harm da war und Mommsen Vikki dazu ebenfalls eingeladen hat. Ich meine telefonisch, und zwar tatsächlich genau am Tag ihres Verschwindens.«
42
Der Mann hatte sie erniedrigt und missbraucht. Er war ein Irrer, ein Psychopath. Vorhin war er gekommen und hatte Vikki gezwungen, ein Stück Papier abzulecken. Was auch immer ihn daran anturnen mochte – es schien ihm wichtig zu sein, dass sie es tat, und Vikki hatte es getan. Ein Stück Papier mit der Zunge zu bearbeiten, hatte sie gedacht, wäre noch das kleinste aller Übel, zu dem er sie nötigen konnte.
Nun war der Mann wieder fort. Vielleicht würde er nie wieder zurückkommen und sie hier verrotten lassen, überlegte Vikki und versuchte aufzustehen. Ihre Hände waren noch immer auf den Rücken gefesselt, ihre Muskeln von der Kälte und der starren Haltung steif. Nach einigen Versuchen gelang es ihr schließlich doch. Danach schmerzten Beine und Fußgelenke, als seien sie mit Lava ausgegossen worden. Jeder Schritt fiel ihr schwer, aber je länger sie auf den Beinen war, desto besser ging es.
Allerdings wurde ihre anfängliche Euphorie von dem Blick in das eigene Gesicht wieder gedämpft, als sie sich im Wasserspiegel in dem Holzfass sah. Ihr war, als blicke sie in das
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