Dünengrab
Ding noch nicht verrücken. Dem Mann könnte das auffallen, wenn er kam. Also nahm Vikki den Fuß wieder weg und sah dabei einen weiteren Aufdruck an der linken Seite der Kiste. Sie betrachtete das Signet einen Moment und verstand schließlich seine Bedeutung. Nach einer Weile begriff sie, was vermutlich in der Kiste war. Und dass die Chancen, hier lebend wieder rauszukommen, sich mit einem Mal potenziert haben könnten.
43
Wenn man Werlesiel in Richtung Westen verließ, kam man in Richtung Bornum auf halbem Weg am Haus von Fokko Broer und dem Uferstreifen vorbei. Er war in Teilen noch von der Spurensicherung abgesperrt. Fuhr man in der anderen Richtung nach Osten aus dem Ort, gelangte man unweigerlich zur Werlesieler Brauerei und passierte zunächst ein großes Lager, auf dem sich unzählige Getränkekisten bis zur Höhe eines Einfamilienhauses stapelten. Angesichts der bunten Fassade aus Plastik musste Tjark an ein gigantisches Tetrisspiel denken. Das Lager gehörte zum der Brauerei angeschlossenen Großhandel, der die Region mit Getränken belieferte. Es hatte etwa die Maße eines Fußballplatzes und war umzäunt. Einige hundert Meter weiter ging es nach links in die Einfahrt zum Brauereigelände. Das Rolltor stand offen. Tjark ließ einen Lkw mit »Werlesieler«-Aufdruck passieren, bevor er abbog.
»Millionen und Abermillionen Liter Bier«, sagte Fred neben ihm. »Wir sind im Paradies.« Tjark lächelte leicht und reduzierte das Tempo.
Rechts auf dem Hof des Firmengeländes befand sich ein Brauerei-Shop mit Direktvertrieb. Daneben standen einige Bierwagen auf Anhängern – sie wurden sicherlich auf Volksfesten oder ähnlichen Anlässen eingesetzt. Eine riesige Halle schloss sich an. Drinnen und draußen standen zahllose aufeinandergestapelte Plastikkisten. Vor der Halle parkten Lkws, die gerade mit Paletten voller »Werlesieler« beladen wurden. Leitungen führten zum zentralen Gebäude, dem alten Brauhaus. Es war aus rotbraunen Klinkern gebaut, sicher drei Stockwerke hoch und glich einer um die Jahrhundertwende errichteten Manufaktur mit Schornsteinen. Die Leitungen verschwanden dort in zwei riesigen silbernen Tanks. Sie sahen aus wie Kolben eines gigantischen Motors und fassten sicher Tausende Hektoliter Bier, den Treibstoff der Werlesieler Wirtschaftskraft.
Tjark parkte ein und stellte den Motor ab. Er und Fred stiegen aus, um im nächsten Moment einem Gabelstapler auszuweichen, dessen Fahrer sich den Hals nach dem BMW verrenkte. Fred sagte: »Du solltest wirklich mal die Einschusslöcher wegmachen und das Cabrio neu lackieren lassen. Das übernimmt doch die Versicherung.«
»Die Zeit wird kommen«, antwortete Tjark, dem inzwischen die Vorstellung gefiel, dass der Wagen gemeinsam mit seinem Besitzer bereits etwas durchgemacht hatte. Wie ein Cowboy und sein Pferd oder Batman und das Batmobile. Sie gingen über den Parkplatz, vorbei an Masten, an denen die »Werlesieler«-Flaggen im Wind flatterten und dabei Geräusche wie große Lenkdrachen am Strand machten. Von irgendwoher klirrte und ratterte es aus einer Abfüllanlage. Dann betraten sie durch den Haupteingang das Foyer der Brauerei.
Der Geruch nach Bier war allgegenwärtig – aber nicht abgestanden und schal wie in einer Kneipe, sondern malzig, würzig und leicht süßlich. Der Boden war gekachelt, die Wände mit historischen Schwarzweißfotos behangen. Hinter dem Empfangstresen zeigte eines in schwerem Goldrahmen hinter Glas einen Bierkutscher mit Fischermütze und Peitsche in der Hand.
Unter dem Bild saß eine füllige und recht attraktive Mittfünfzigerin. Sie lächelte Tjark und Fred an, grüßte kurz und erklärte ihnen den Weg in das Epizentrum der Macht: Knut Mommsens Büro. Sie bedankten sich und gingen durch einen Raum voller Kupferkessel, Armaturen mit Zeigern, Hebeln und Rädern aus Holz und Messing. Im Treppenhaus nahmen sie zwei Stufen gleichzeitig, gelangten in einen Flur und schließlich in Mommsens Vorzimmer, wo sie eine rothaarige Sekretärin in Empfang nahm.
In Mommsens Büro hätte sich jeder russische Oligarch sofort wie zu Hause gefühlt. Es war mit pseudobarocken Möbeln, Brokatstühlen, Samtsofas und dick aufgetragenen Gemälden mit Meeresmotiven dekoriert. Mommsen selbst saß an einem wuchtigen Schreibtisch und telefonierte. Er hob die Hand zum Gruß und wies Tjark und Fred mit einer Geste die Besucherstühle zu. Mommsens Haare waren grau wie der Rücken eines Wolfes. Er trug einen blauen Zweireiher mit goldenen Knöpfen
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