Dünengrab
Gesicht einer lebenden Toten – und was war sie letztlich anderes? Vielleicht würde sie schon heute sterben. Vielleicht erst in einer Woche. Vielleicht bereits in fünf Minuten.
Vikki beugte sich ein weiteres Mal über das Fass und betrachtete ihr Gesicht im Wasser. Immer wieder verschwamm das Spiegelbild, wurde von kleinen Wellen verzerrt. Zuerst nahm sie an, das läge an Tropfen, die von der Decke herabfielen. Dann bemerkte sie, dass Tränen die Ursache waren. Sie flossen ihr unkontrolliert aus den Augen.
Soweit Vikki im fahlen Licht der Glühbirne erkennen konnte, musste sie aussehen, als habe ein Panzer sie überrollt. Ihr rechtes Augenlid war verfärbt und geschwollen. Auf der Unterlippe war getrocknetes Blut. Die Haare waren verfilzt. Vikki sah aber noch etwas anderes in dem Spiegelbild. Sie sah das Gesicht einer jungen Frau, die nicht einmal zwanzig Jahre alt war, die ihr Leben aber schon völlig verpfuscht hatte und der es bereits an einer Perspektive für die Zukunft gefehlt hatte, als sie noch nicht in die Fänge eines Mannes geraten war, der sie zweifelsohne töten würde.
Liebe – ausgerechnet von ihr forderte er Liebe. Sie wusste nicht, was Liebe war und wie sie sich anfühlte, beziehungsweise hatte es längst vergessen. Sie war gut darin, jemandem etwas als echt zu verkaufen – ob es nun ein Orgasmus oder ein Kuss war. So gut, dass für sie selbst die Grenzen manchmal verwischten und sie ihre eigenen Lügen glaubte. Sex kannte sie nur ohne Gefühl. Nicht wenige Männer hintergingen ihre Partnerin oder Frau mit Vikki. Sicher hätte sie die Männer deswegen verachten können, aber Vikki tat das nicht. Dazu war ihr alles viel zu gleichgültig, und von Betrug konnte man nach ihrer Meinung erst sprechen, wenn Emotionen eine Rolle spielten, und damit war Sex für sie nicht verbunden. Es war ein mechanischer Prozess. Im Altenheim wischten Frauen Männern den Hintern ab oder wechselten ihnen die Windeln, sie holte Männern einen runter. Manche waren nett, andere arme Schweine oder abartige Irre, aber am Ende war es gleich, was sie waren – Hauptsache, sie zahlten, denn das sicherte Vikki die Miete und das Essen. Das Geld zeigte ihr aber auch, dass sie wenigstens etwas wert war – wenn schon keinen Blumenstrauß, kein selbst geschriebenes Gedicht, keinen Ring oder keine Kette, dann wenigstens zweihundert Euro die Stunde, und das war durchaus nicht schlecht. Onkel Heiner hatte ihr nie gesagt, dass sie etwas wert war. Und er hatte, bis auf etwas Taschengeld, auch nie gezahlt – er hatte vielmehr vorausgesetzt, dass ihr Körper eine hinreichende Gegenleistung dafür war, dass er Vikki bei sich aufgenommen hatte und sich um sie kümmerte.
Irgendwann war der Zeitpunkt gekommen, an dem sich ihr Körper dafür entschieden hatte, nicht länger von einem Mann benutzt zu werden, sondern die Kontrolle über Männer zu übernehmen, was die in dem Körper lebende Seele okay gefunden hatte. Beide würden sich nun ein weiteres Mal dafür bereit machen, dass Angriff die beste Verteidigung war. So hatten sie es gelernt. So funktionierten sie.
Vikki ballte die Fäuste und starrte ins Wasser – das Wasser, das ihr Leben beenden würde, wenn ihr Entführer beschloss, sie beim nächsten Mal so lange unterzutauchen, bis sie ertrank. Nein, dachte Vikki, das würde sie nicht zulassen. Sie hatte einmal Träume gehabt. Sie wollte gerne mit Kindern arbeiten. Sie wollte einmal die Wüste und New York sehen. Sie wollte auf einem Motorrad nach Paris fahren, in einem sündhaft teuren Restaurant Champagner trinken und dort in einem Kleid von Christian Lacroix in die Oper gehen. Und irgendwann einmal wollte sie lernen, wie sich Liebe wirklich anfühlte.
»Nein«, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu. »Hier wird es nicht enden.«
Dazu war es nötig, mobiler zu sein. Der Raum, in dem sie gefangen war, schien recht groß und annähernd quadratisch zu sein. Vikki schätzte, dass das Grundmaß sechs oder sieben Meter betragen musste. Genug Platz, um sich ein wenig zu bewegen, im Kreis herumzugehen und dafür zu sorgen, dass ihre Muskeln wieder geschmeidig und sie selbst damit agiler wurde. Aber es war noch etwas anderes erforderlich.
Vikki ging in die Hocke und biss die Zähne gegen den Schmerz in den Gelenken zusammen. Dann zog sie die Beine an, formte die an den Handgelenken gefesselten Arme hinter dem Rücken wie zu einer Schlinge und schob sich mit dem Po hindurch. Es war anstrengend. Es tat weh. Aber es ging. Schließlich ließ
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