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Dummendorf - Roman

Dummendorf - Roman

Titel: Dummendorf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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wieder vergaßen, Minkin abzuschütteln.
     
    Am Ende der Straße sahen die Jungs Klawdija Iwanownas Spitzenhut heranschaukeln. Aus alter Gewohnheit wollten sie schon weglaufen, aber dann fiel ihnen ein, dass sie ja jetzt Fünftklässler waren und Klawdija Iwanowna ihnen nichts mehr vorzuschreiben hatte. Kühn schritten sie ihr entgegen, grüßten grimmig, und Ilja Sergeitsch fragte:
    »Wissen Sie vielleicht, wo Kostik ist?«
    »Was sind bloß alle so verrückt nach diesem Kostik?«, rief Klawdija. »Machen ein Getue um den Kerl! Vater Konstantin ist mit ihm in die Stadt, seine Papiere in Ordnung bringen. Wieso lungert ihr eigentlich tatenlos herum? Wollt ihr auch als Banditen enden? Marsch, ab an die Bücher!«
    Doch die Fünftklässler hörten nicht mehr auf ihre einstige Aufpasserin und stürmten zum Fluss, dass ihre Fersen nur so blinkten.
     
    »Minkin, kuck mal, da sind kleine Fische. Leg dich auf den Bauch, dann siehst du sie besser.«
    Minkin argwöhnte eine Falle und starrte Ilja Sergeitsch misstrauisch an.
    »Sie leben im Schlamm«, bestätigte Wanka.
    »Ein ganzer Schwarm«, ergänzte Vitja.
    Schließlich siegte die Neugier, Minkin legte sich bäuchlings auf die warmen Bohlen der Brücke und schaute ins Wasser. Tief unten schlängelten sich grüne Stränge von Wasserpflanzen, zitterte die ausfransende weiße Sonne und glitten lautlos Wasserläufer dahin.
    Minkin spürte eine verdächtige Bewegung in seinem Rücken, doch da kam tatsächlich ein kleiner Fisch unter der Brücke hervor geschwommen, und er vergaß alles auf der Welt. Als der Fisch verschwunden war, fortgetragen von der schnellen Strömung, sprang Minkin auf, aber es war zu spät.
    Die Fünftklässler waren weg, nur weit entfernt auf dem Feld zitterte verräterisch das hohe Gras. Minkin blickte sich um, und in seinen Augen brodelten Tränen der Entrüstung. Er nahm den Panamahut ab, schleuderte ihn wütend in den Fluss und schaute lange zu, wie er auf den Wasserstrudeln tanzte, sich an die Zweige alter Weiden klammerte und im Schilf steckenblieb.
     
    Vitka, Wanka und Ilja Sergeitsch saßen auf einem Haufen Ziegelschutt vor einem verlassenen Kuhstall und knabberten konzentriert an ihren Zuckerstücken.
    »Vielleicht hat der alte Pope sie auf der Rinderfarm versteckt?«, mutmaßte Wanka träge. »Was ist, gehen wir suchen?«
    »Bist du verrückt!«, wehrte Vitka ab. »Da wohnt doch der Mann mit dem Euter statt einem Gesicht!«
    »Ach, du hast bloß Schiss!«, rief Ilja Sergeitsch, verärgert, dass Vitka ihm erneut mit einer interessanten Idee zuvorgekommen war.
    Fünf Minuten lang schrien sie sich an und wiederholten ständig: »Schiss« »Keinen Schiss.« Bis Wanka das Geschrei satt hatte und sagte:
    »Wenn da wirklich der Mann mit dem Euter statt einem Gesicht wohnt, dann habt ihr ihn sowieso schon hundertmal geweckt.«
    »Ach was!«, parierte Vitka nach sekundenlangem Zögern. »Er hat doch keine Ohren.«
    »Dann hat er auch keine Augen«, urteilte Wanka. »Wovor dann also Angst haben?«
    »Er frisst Kinder«, sagte Vitka überzeugt. »Erinnerst du dich, Klawdija hat erzählt, dass früher in jeder Klasse dreißig Schüler waren? Was meinst du, wo die alle geblieben sind? Die sind zur Rinderfarm gegangen, und keiner hat sie je wieder gesehen!«
    »Wie frisst er sie denn?«, zweifelte Wanka weiter. »Er hat doch auch keinen Mund!«
    »Na, er – er saugt sie ein«, erklärte Vitka, und nun bekamen sie wirklich Angst.
    Die Sonne war hinter einer Wolke verschwunden, Wind kam auf, und im verlassenen Kuhstall ertönte Schluchzen und Jaulen. Die Fünftklässler rollten kopfüber vom Schutthaufen und blieben inmitten von Kamillen liegen.
    »Die Geister der zu Tode gequälten Melkerinnen«, flüsterte Vitka.
    »Oder vielleicht er selber?«, fragte Wanka nur mit den Lippen.
    »Warum sollte er heulen?«
    »Vor Hunger …«
    »Mamaaa!«, brüllte der Fünftklässler Ilja Sergeitsch und stürmte Hals über Kopf in Richtung Dorf.
    Vitka und Wanka rannten hinterher.
     
    In Mitino passten die Eltern sie ab und scheuchten sie zum Mittagessen. Ilja Sergeitsch blieb allein auf der Hauptstraße zurück. Er wollte nicht nach Hause: Für die beiden geklauten Brotkanten drohte ihm eine furchtbare Strafe, auch wenn einen davon Wanka und Vitka aufgefuttert hatten und er den anderen an Minkin hatte verfüttern müssen, um ihn abzulenken.
    Ilja Sergeitsch kletterte auf den alten Apfelbaum vor dem Dorfladen, setzte sich in die bequeme Astgabel und biss in einen

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