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Dummendorf - Roman

Dummendorf - Roman

Titel: Dummendorf - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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tun?«, fragte Jewdokija erschrocken.
    »Rufen Sie erst mal nicht dort an.«
    »Aber wie …«, begann Klawdija empört.
    »Soll er sich mit seiner Mutter treffen«, fuhr Vater Konstantin fort und sah der kleinen Direktorin in die schüchternen, fragenden Augen. »Dann sehen wir weiter. Vielleicht kehrt er von sich aus ins Heim zurück. Aber solange er sein Ziel nicht erreicht hat, wird er immer wieder herkommen und jedesmal wütender werden.«
    »Das wird er nicht!«, mischte sich Klawdija endlich ein. »Wir werden darum bitten, dass sie ihn wegsperren. In die Psychiatrie. Da gehört er nämlich hin!«
    »Weshalb? Weil das Kind ein Mal im Leben seine Mutter sehen will?« Jewdokija ergriff überraschend Partei für den Jungen. Die Waagschale neigte sich zu seinen Gunsten, und Kostja durfte bleiben.
     
    Wieder zurück, fand Vater Konstantin seine karge Behausung völlig auf den Kopf gestellt vor. Das Waschbecken war herausgerissen, die Seife zertrampelt, die kürzlich gekaufte Tasse zerschlagen, der Löffel zu einem Knoten verbogen, und überall schwebten Federn aus dem aufgeschlitzten Kopfkissen. Quer auf dem aufgewühlten Bett lag Kostja und beobachtete ihn kalt.
    Vater Konstantin lief durch die Hütte, entdeckte in der Ecke einen zerbrochenen Stuhl und berührte die eichene Tischplatte.
    »Warum hast du denn den Tisch nicht kaputtgeschlagen?«, erkundigte er sich. »Keine Kraft mehr?«
    »Ich bin geschafft!« Kostja lächelte breit, ohne dass sein Blick sanfter geworden wäre.
    »Na so was, das passiert dir also auch.«
    Vater Konstantin setzte sich auf die Bettkante, zupfte nachdenklich eine weiße Feder aus seinem Bart und sagte traurig:
    »Tja, Kostja, es wird nicht leicht sein, deine Mutter zu treffen. Bei sich zu Hause lässt sie sich kaum blicken. Ich war eben da – nichts. Wenn du willst, gehen wir hin, und du kannst dir mal ansehen, wo sie wohnt. Die Tür steht immer offen.«
    »Nein! Bloß nicht!«, rief Kostja erschrocken.
    Ein paar Sekunden lang wechselte sein Gesicht hektisch den Ausdruck; er wusste nicht, wie er gucken sollte. Vater Konstantin stand auf und ging zum Fenster. Der kleine Kostja biss die Zähne zusammen und begann krampfhaft zu schluchzen wie ein Erwachsener.
     
    Vater Konstantin wusste nicht, wo er Ljubka suchen sollte – ihr Leben spielte sich meist außerhalb der Grenzen des sie verachtenden Dorfes ab. Doch als er am nächsten Morgen in den Laden wollte, um für Kostja eine Tasse und etwas zu essen zu kaufen, stieß er gleich am Kirchenzaun auf die orangerote Weste.
    Ljubka stand in einer angetauten Schneewehe, hielt sich an den Eisenstäben fest und blickte gierig in den Hof. Als sie Schritte hörte, drehte sie sich um, und Vater Konstantin war verblüfft, wie verständig ihr Gesicht plötzlich wirkte.
    »Ist es wirklich wahr?«, fragte Ljubka, und ihre Stimme verriet nicht den Hauch der üblichen Trunkenheit.
    »Ja, es ist wahr.«
    »Und wie geht es ihm?«
    »Er schläft. Wenn du willst, geh ruhig rein.«
    »Nein! Bloß nicht!«, rief Ljubka erschrocken, haargenau wie Kostja gestern, und Vater Konstantin fürchtete, dass auch sie gleich anfangen würde zu weinen.
    Doch sie beherrschte sich und ging mit ihm zusammen zum Laden.
    Vater Konstantin kaufte Wurst und Brot.
    »Du Holzkopf!« Ljubka, die auf der Treppe wartete, schlug die Hände zusammen. »Wer gibt denn Kindern so was zu essen? Er braucht Milch! Pa-steu-ri-sier-te!«
    »Ljuba, er ist schon zehn. Milch macht ihn nicht mehr satt.«
    »Zehn?!«, hauchte Ljubka und schwieg erschüttert.
     
    Die Hütte zu betreten, in der der unbekannte zehnjährige Mensch schlief, der in ihrem Kopf nur als schreiender Säugling existierte, lehnte Ljubka erneut ab.
    »Ich gehe, ich muss mich erst vorbereiten.« Sie deutete unbestimmt in Richtung ihres Hauses.
    »Aber nicht trinken!«, bat Vater Konstantin ohne besondere Hoffnung.
    »Nein, nein!« Ljubka hob ruckartig den Kopf. »Als ob ich das nicht kapiere!«
     
    Der Junge war nicht da. Vater Konstantin legte die Lebensmittel ab und machte sich daran, die Spuren der Zerstörungen vom Vortag zu beseitigen. Als er gerade das Waschbecken befestigte, sagte plötzlich jemand:
    »Übrigens, für die Zukunft. Gegen Milch hätte ich auch nichts.«
    Kostja saß auf dem Tisch, hielt Brot und Wurst in der Hand und biss herzhaft abwechselnd hinein. Sein grobes Benehmen hatte nichts mehr von der Verzweiflung eines Menschen, der kopfüber in den Abgrund stürzt. Seine Mimik hatte sich kaum merklich

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