Dummendorf - Roman
unreifen Apfel. Er verzog das Gesicht, der Apfel war ungenießbar und so sauer wie er selbst, während er störrisch darauf herumkaute.
Schließlich feuerte er den Griebs auf eine vorbeilaufende Katze, seufzte einmal und noch einmal – und fühlte sich plötzlich uralt.
Tja, das Leben ist vorbei, verehrter Ilja Sergeitsch, dachte er bitter. Fünfte Klasse! Nicht zu fassen! Bald Zeit für den Friedhof!
Er sprang vom Apfelbaum und marschierte drauflos.
»Habt ihr schon Tee getrunken?«, rief er Wanka zu, der am offenen Fenster am Tisch saß.
»Nee«, antwortete der mit vollem Mund. »Und ihr?«
»Wir ja«, seufzte Ilja Sergeitsch und trottete traurig weiter.
Vorm Zaun der Kirche entdeckte er Kostja, der in der Nase bohrte, und freute sich, als hätte er einen lieben Verwandten getroffen.
»Komm, wir suchen die Perle des alten Popen!«, rief Ilja Sergeitsch und lief dem furchteinflößenden Heimzögling entgegen.
»Ich zeig dir gleich eine Perle!« sagte Kostja und ging langsam auf den Fünftklässler zu, der ängstlich zurückwich. »Das Steineschmeißen, das treib ich dir aus! Ich reiß dir dein Lästermaul auf bis zu den Ohren! Und in einem fremden Haus rumwühlen, das gewöhn ich dir auch ab!«
Ilja Sergeitsch quiekte erschrocken auf und warf sich in den Straßengraben.
SECHSTES KAPITEL
Kostja
Klawdija Iwanowna kam hereingelaufen: »Ein Wunder«, rief sie schrill und so aufgeregt, als sei Feuer ausgebrochen.
Vater Konstantin wappnete sich. In seiner ersten Woche in Mitino war er bereits mehrfach glücklicher Zeuge diverser Wunder von Klawdijas Gnaden geworden. Das erste war ein Traum gewesen: Sie hatte geträumt, Pachomow habe angefangen zu trinken. Und am nächsten Tag hatte er das tatsächlich getan! Vater Konstantin, der den ehemaligen Traktoristen noch nie nüchtern erlebt hatte, erlaubte sich leise Zweifel an Klawdijas prophetischer Gabe, wofür er (vom Rentner Gawrilow) endgültig den gefährlichen Modernisten zugerechnet wurde.
Am nächsten Tag erblickte die Grundschullehrerin in den Umrissen einer Wolke den Erzengel Gabriel, doch das war nur der Anfang. Vom Tauwetter war das morsche Dach der Kirche undicht geworden, Vater Konstantin stieg mit einem Stück Dachpappe hinauf, und als Klawdija beim Nachhausegehen die Kirchentür offenstehen sah, schaute sie auf einen Sprung hinein – und verkündete der Welt mit einem triumphierenden Schrei das Wunder einer weinenden Ikone. Durch das lecke Dach waren ein paar Tropfen auf den Beschlag der Ikone des heiligen Heilers Pantelejmon gefallen.
Und nun war ein neues Wunder geschehen.
»Heute ist ein entlaufenes Heimkind in die Schule eingestiegen«, verkündete Klawdija voller Eifer. »Der Junge hat alles auf den Kopf gestellt. Doch darum geht es nicht. Wir haben ihn mit einer Suppe in den Speisesaal gelockt und eingeschlossen. Der Schaden ist natürlich nicht wiedergutzumachen. Aber auch davon rede ich nicht. Während er da drinnen gegen die Tür hämmert, rufen wir im Heim an. Und es stellt sich heraus, dieser kleine Galgenvogel – wissen Sie, wer das ist?! Der Sohn von unserer Ljubka! Ein Wunder! Er ist doch schon mit drei Monaten weggebracht worden! Und nun verirrt er sich ausgerechnet hierher! Ein Wunder!«
»Wo ist er denn jetzt?«
Klawdija winkte ab. »Sie haben ihn zurückgeschafft. Aber das ist doch wirklich unglaublich, nicht – er läuft ausgerechnet dorthin, wo er geboren wurde! Warum sagen Sie nichts? Zweifeln Sie schon wieder?«
»Ich denke, er wusste genau, wohin er lief«, antwortete Vater Konstantin, der die Sache lieber schweigend übergangen hätte.
»Nein, was für ein ungläubiger Thomas!«, staunte Klawdija. »Wie hat man Sie bloß Priester werden lassen?!«
Am nächsten Tag sah Vater Konstantin in den löchrigen Schneewehen vor dem Laden Fahrräder liegen. Die sieben Tadschiken vom Sägewerk waren gekommen, um Instant-Nudelsuppen zu kaufen. Sie tauchten nur im äußersten Notfall im Dorf auf, und nur alle zusammen. Nina, die violette Verkäuferin, hatte Vater Konstantin erklärt, die Tadschiken hätten eine Heidenangst vor Wowa, der seit seiner Armeezeit einen anhaltenden Hass gegen die säbelzahnigen Tschurki schürte und sie alle ohne Unterschied verprügelte.
Bei den Fahrrädern lungerte Ljubka herum; Vater Konstantin hatte sie seit dem ersten Tag ihrer Bekanntschaft nicht mehr gesehen. Sie war in Kampfstimmung: Sie zerteilte mit der Handkante die Luft, drohte der menschenleeren Straße mit der Faust und stritt heftig
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