Dunkle Gewaesser
gehofft, er würde sich irgendwann wieder zu ganzer Größe entfalten, aber das ist nicht passiert. Er war nicht immer ein schlechter Kerl, Schatz. Es gab Augenblicke, da war er auch gut zu mir.«
»Das sagst du so. Mich tröstet das nicht.«
»Leider wurden diese Augenblicke immer seltener, und ich fürchte, dass er schon so lange flach ist, dass er für immer so bleiben wird. Aber auf dich bin ich stolz, weil du nicht zugelassen hast,dass wir dich niedergedrückt haben. Du rappelst dich immer wieder hoch und gibst die Hoffnung nicht auf. Früher war ich auch so, und ich versuche mir ins Gedächtnis zu rufen, wie das war. Und ich möchte dafür sorgen, dass du so bleibst, wie du bist.«
»Ich geb mir Mühe. Aber zu mir war er immer böse, und es tat ihm auch niemals leid.«
»Das ist mir nicht entgangen.«
»Warum hast du dann nichts dagegen getan?«
»Mir hat einfach die Kraft gefehlt.«
Das war keine besonders befriedigende Antwort, aber mehr würde ich nicht kriegen, das wusste ich. Also beschloss ich, dass es wohl am besten war, noch mal ganz von vorne anzufangen, und zwar genau jetzt. Sie strich mir über die Hand und sagte nichts mehr. Ich schmiegte mich an sie. Dabei kam ich mir vor wie ein trauriger alter Hund, der endlich mal gestreichelt worden war.
Irgendwann in der Nacht wachten wir alle auf, weil Mama am Rand des Floßes auf dem Bauch lag und sich übergab. Nachdem alles, was in ihr drin war, im Fluss schwamm, brachte ich sie dazu, sich wieder in die Mitte des Floßes zu legen, deckte sie zu und nahm sie in die Arme. Trotzdem zitterte sie, als wäre es kalt, dabei war es eine warme Nacht.
»Ich brauch das Allheilmittel«, sagte sie. »Das ist an allem schuld. Aber ich hab keins mitgenommen. Ich hätte langsam damit aufhören sollen, nicht von heut auf morgen. Mir ist so was von schlecht! Ich dachte, Gott hätte nach mir gerufen, aber das war nur eine Nachtschwalbe. Ich hab wieder von dem schwarzen Pferd geträumt, und das weiße war auch da, nur weit weg und viel zu schnell für mich.«
»Irgendwann holst du es ein.«
Sie zitterte noch eine Weile, aber schließlich beruhigte sie sich, und wir fanden beide etwas Schlaf.
Wir standen alle mit der Sonne auf. Mama fühlte sich deutlich besser, und bei Tageslicht kam mir unsere Zukunft nicht mehr ganz so düster vor.
Mama hatte, genauso wie Terry, an alles gedacht. In einem Kübel in ihrer Tasche hatte sie Maisbrötchen dabei, und sie reichte sie herum, während wir Wasser aus einer Feldflasche tranken, die Terry gehörte. Ich hatte das Gefühl, noch nie etwas so Gutes gegessen oder getrunken zu haben. Allerdings entging mir nicht, dass Mama zwar etwas Wasser trank, aber nichts aß.
Nachdem wir das Floß losgebunden hatten, stakten wir wieder auf den Sabine hinaus und setzten unsere Reise fort. Die Strömung war so stark und der Fluss so gerade, dass wir ganz ordentlich Tempo aufnahmen, und wir mussten nicht viel tun, außer wenn das Floß zu sehr in die eine oder andere Richtung abtrieb. Dann mussten wir uns ziemlich abmühen, um es wieder zurück in die Strömung zu schieben. Die meiste Zeit hielten wir uns jedoch problemlos in der Mitte des Flusses und kamen gut voran. Was ich gar nicht mitgekriegt hätte, wenn die Bäume am Ufer nicht so schnell an uns vorbeigerauscht wären.
Als wir allmählich wieder Hunger bekamen und die Sonne schon hoch am Himmel stand, hörten wir Gesang, und zwar ziemlich schönen und ziemlich lauten, einen ganzen Chor.
»Als wären die Engel vom Himmel herabgestiegen«, sagte Terry.
»Yeah«, erwiderte Jinx. »Oder da singt ein Haufen Leute ein Lied.«
Aber es war wirklich hübsch, wie die Stimmen über das Wasser tanzten. Während wir weitertrieben, wurde der Gesang lauter. Schließlich entdeckten wir eine Gruppe von Weißen, die sich am Ufer versammelt hatte. Manche standen direkt am Wasser, die übrigen jedoch auf einer kleinen, von der Sonne beschienenen Anhöhe. Die meisten von ihnen waren fein herausgeputzt – jedenfalls so weit das in Osttexas möglich war –, und unten am Flussstand ein Mann, der barfuß war und schwarze Hosen und ein weißes Hemd trug. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt und wedelte mit einem großen schwarzen Buch. Ein Mann, der etwa genauso gekleidet war, stand mit gesenktem Kopf neben ihm, wie ein Hund, der ausgeschimpft wurde.
Aber er wurde nicht ausgeschimpft. Als mir klar wurde, dass Sonntag war, begriff ich, was da passierte. Ich hatte die Wochentage aus den Augen verloren, aber
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